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Ein Jahr nach der Flutkatastrophe sind in Pakistan weiter eine halbe Million obdachlos.

© dapd

Ein Jahr Flutkatastrophe in Pakistan: „Am schlimmsten trifft es die Ärmsten der Armen“

Vor einem Jahr traf Pakistan die schlimmste Flutkatastrophe in der Geschichte des Landes. Über die Folgen der Überschwemmungen spricht Jörg Denker, Leiter des Asienreferats der Kindernothilfe.

Wie sieht die Lage ein Jahr nach der Jahrhundertflut in Pakistan aus?

Noch immer können 30 bis 40 Prozent der Betroffenen nicht in ihre Häuser und Dörfer zurückkehren, leben vielfach in Notcamps oder Baracken. Sie sind weiter auf Hilfen der Internationalen Gemeinschaft, von Hilfsorganisationen, Staat und Militär angewiesen. Weil aber das Geld ausgeht, müssen viele Organisationen nun ihre Arbeit einstellen oder zurückfahren. Die Spendenbereitschaft war sehr zögerlich, vermutlich weil Pakistan nicht den besten Ruf hat, aber auch weil es eine langsame, schleichende Katastrophe war.

Wen hat die Flut am härtesten getroffen?
Am schlimmsten sind die Ärmsten der Armen betroffen, die schon vorher am Existenzminimum herumkrebsten. Viele haben alles verloren, ihre Häuser, ihre Jobs, die Ernte. Die Menschen geraten in eine dramatische Abwärtsspirale. Das liegt auch an den sozialen Strukturen. In der Provinz Sindh herrscht bis heute ein Feudalsystem. Obwohl Pakistans Gesetze dies verbieten, wird Schuldknechtschaft breit praktiziert. Weil aber im letzten Jahr die Ernte ausfiel, können viele Menschen ihre Schulden bei den Landherren nicht bezahlen. Wir wissen von Familien, die deshalb ihr Land verloren und in Slums landeten. Andere Familien verkaufen in ihrer Verzweiflung die Arbeitskraft ihrer Kinder für einen Spottpreis und auf Jahre hinaus an die Landherren. Andere arme Familien verheiraten ihre minderjährigen Töchter, um ein Kind weniger füttern zu müssen.

Die Flut hat riesige Ernten vernichtet. Droht Ähnliches in diesem Jahr?
Es wird dieses Jahr keine schlechte Ernte geben. Das ausgeschwemmte Flusswasser wirkt wie Dünger. Deshalb ist der Boden nun relativ fruchtbar. Doch den Nutzen werden vor allem jene haben, die das Land besitzen – also wieder die Großgrundbesitzer. Die Armen dagegen sind von massivem Hunger bedroht. Und dies könnte sich verschärfen. Die Flut hat viele Bewässerungsgräben verstopft. Als Folge könnten in den nächsten Jahren große Landstriche nicht mehr bearbeitet werden. Das kann in der Zukunft zu massiven Ernteausfällen führen.

Wie sieht die Situation für Kinder aus?
Wir befürchten, dass es massive Spätfolgen gibt. Zum einen verzeichnen wir im Sindh eine endemische Unterernährung bei Kindern und Jugendlichen. Zum anderen droht ein breiter Bildungsausfall. Im Extremfall wächst hier eine Generation von Analphabeten heran, die keine Chance auf Bildung hat. Die Flut hat über 10 000 Schulen zerstört.

Die Kindernothilfe engagiert sich seit über 30 Jahren in Pakistan. Wie hat sie auf die Flut reagiert?
Wir unterhalten 86 Kinderzentren, viele in der Nähe von Notcamps, aber auch in betroffenen Dörfern und Städten. Kurz nach der Flut dienten diese vor allem dazu, die Kinder zu beschützen. In den Zentren bekommen die Kinder Essen, werden medizinisch und psychologisch betreut und erhalten Schulunterricht. Die Eltern schicken ihre Kinder gerne dorthin, weil sie sie dort sicher wissen. Derzeit betreuen wir in jedem Zentrum etwa 100 Kinder. Insgesamt haben wir seit August 2010 rund 140 000 Kinder und Erwachsene mit Soforthilfemaßnahmen wie etwa der Verteilung von Nahrung geholfen.

Jörg Denker ist Leiter des Asienreferats der Kindernothilfe. Die Organisation engagiert sich seit mehr als 30 Jahren in Pakistan.

Das Gespräch führte Christine Möllhoff.

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