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Am 18. März 2014 hielt Präsident Putin vor der Duma seine Rede zur Krim-Annexion.

© Alexej Nikolsky/AFP

Ein Jahr Krim-Annexion: Zauberlehrling Putin

Der Chef der Münchener Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, analysiert eine Rede des russischen Präsidenten zur Krim-Annexion vor einem Jahr - und kommt zu erstaunlichen Ergebnissen.

Prächtiger hätte die Inszenierung nicht sein können: Im Georgssaal des Kreml empfingen die Abgeordneten der Duma und die Mitglieder des Föderationsrates Präsident Wladimir Putin mit begeistertem Applaus. Wie ein Triumphator betrat er am 18. März 2014 die Bühne und hielt eine vom Fernsehen live übertragene Rede, mit der er die Besetzung der Krim durch Russland rechtfertigte. Ach, was heißt „rechtfertigen“ – er verglich die Eingliederung der Krim in den russischen Staat mit der deutschen Wiedervereinigung und erhob sie damit in den Rang einer Vollendung der nationalen Einheit.

Eine Ansprache ohne Abstimmung mit dem Politbüro

Ein Jahr ist seitdem vergangen. Wie lesen wir diese Rede heute? Wolfgang Ischinger, langjähriger Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz und der wohl profilierteste deutsche Diplomat, analysierte jetzt den Text im Licht der Entwicklung der Ukraine-Krise. Im Rahmen der Reihe „Historische Reden an Europa“, veranstaltet von der Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa, stellte er sich die Frage, ob das nun eine große, eine bedeutende Rede gewesen sei – und verneinte und bejahte das gleichzeitig.
Keine große Rede? Ischinger wertet Putins Auftritt als eine Rechtfertigungsrede, getragen von schlechtem Gewissen und vor falschen Darstellungen des historischen Kontextes strotzend. Der Rede fehle jede Vision, kein Breschnjew oder Gorbatschow hätte sie ohne Abstimmung mit dem Politbüro so gehalten – aber ein Politbüro gibt es nicht mehr. Putin handele als Alleinherrscher, als Zar, der die ungeteilte Macht habe und sich bei niemand rückversichern müsse.

Strategisches Kalkül

Doch eine bedeutende Rede? Ja, meint Ischinger, denn die Rede zeige im Kontext mit anderen Ansprachen Putins, dass der sehr wohl strategisch und nicht nur taktisch denke, wie ihm seine Kritiker im Westen oft unterstellen. Der deutsche Diplomat zitiert eine Äußerung des damaligen stellvertretenden Bürgermeisters von Petersburg, Putin, aus dem Jahre 1994: Die Krim müsse, sagte er damals, nach dem Zerfall der Sowjetunion unbedingt zurück zu Russland. Und einen weiteren roten Faden in den öffentlichen Äußerungen Putins arbeitet Ischinger heraus: 2014 im Georgssaal des Kreml, 2008 in München bei der Sicherheitskonferenz, 2001 im September vor dem Bundestag bedauert und beklagt Putin jedes Mal das Fehlen einer europäischen Sicherheitsarchitektur und dadurch die Marginalisierung Russlands in der Weltpolitik.

Die Geister, die er rief

Er persönlich, sagt Ischinger, habe durchaus Verständnis für den Frust, der sich in den vergangenen 25 Jahren in den Köpfen der russischen Führung über den Verlust des Supermachtstatus breit gemacht habe. Wenn der Westen in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts neben der Nato-Osterweiterung, auch an der Realisierung des Nato-Russland-Paktes gearbeitet hätte, statt diesen in der Ära George W. Bush eher dilatorisch zu behandeln, wäre es vielleicht nicht zur Entfremdung gekommen. Heute sieht Ischinger den russischen Präsidenten in der Position eines Zauberlehrling, der die von ihm in der Ostukraine gerufenen Geister nicht mehr kontrollieren könne. Dennoch: An der Umsetzung des Minsk-II-Abkommens führe kein Weg vorbei, auch wenn das vom Westen ziemlich schwammig verhandelt worden sei.

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