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Ein Jahr nach dem Beben: Haiti: Von allem zu viel und von allem zu wenig

Ein Jahr nach dem verheerenden Erdbeben ist Haiti noch immer eine Trümmerlandschaft. Gelder kommen nicht an, die internationale Hilfe ist chaotisch – und die politische Lage kurz vor der Explosion.

Ist sie das, die Hoffnung? Laut schallt Salsa über den Hof des Hopital Espoir. Feiern sie hier schon kurz vor dem Jahrestag des verheerenden Erdbebens in Haiti mitten am Tag ein Fest? Oder wollen sie der Dauerbeschallung durch die Kirchengemeinde nebenan mit ihren aus Lautsprechern dröhnenden Chorälen etwas entgegensetzen?

Mit geschlossenen Augen gibt sich Ikcador Michel der Musik hin, „Man at Work“ steht auf seinem Shirt. Vor ihm schwingt Marie Julie Guerrier-Dumé ihre 84 Kilo und vor allem die Hüften zu den Klängen, in der Hand ihr Handy. Den massigen Körper hat sie selbstbewusst in ein tief ausgeschnittenes lachsfarbenes T-Shirt und einen engen Jeansrock gezwängt. „Ich bin eine dicke Mama. Aber ich bin schön“, sagt die 35-Jährige und lacht. Die Salsamusik hat Maria Reyes auf ihrem Laptop aus El Salvador mitgebracht. Sie ist 25 und seit einem Monat Physiotherapeutin im Krankenhaus. Die Patienten sollen auf den Beinen bleiben, mit Musik geht es leichter.

Michel Ikcador ist einer von drei Patienten, die jetzt nach einem Jahr noch immer im Hospital der Hoffnung liegen. Noch immer trägt er eine mächtige metallene Apparatur am linken Bein, die dafür sorgen soll, dass die Knochen ordentlich zusammenwachsen. Seine Beine sind voller Narben, lange wollten die Wunden nicht verheilen, Haut musste transplantiert werden. Gerade hat er sich an einer der Schrauben beim Tanzen das rechte Bein geritzt. Kleine rote Punkte Blut tropfen auf den Beton.

In ein paar Wochen soll das blitzende Ungeheuer von seinem Bein entfernt werden, dann wird auch Ikcador Michel das Krankenhaus verlassen müssen, das für ihn inzwischen zu einem kleinen Paradies in all dem Chaos geworden ist. Es wird ein harter Schnitt werden. Denn so gut wie hier hat es draußen kaum einer. Viele der Entlassenen leben in einem der Zelte, die noch immer zu Hunderttausenden das Stadtbild von Port-au-Prince prägen – zwölf Monate, nachdem am 12. Januar 2010 um 16 Uhr 53 die Erde 40 Sekunden bebte. Rund 250 000 Menschen starben und gut eineinhalb Millionen wurden obdachlos.

Marie Julie hat diesen Schnitt schon hinter sich. Sie ist im Sommer gegangen und hat es gut getroffen. Die Medizinlaborantin und ihr Mann Jhonny haben ein Haus gefunden, die Besitzerin hat ihnen sogar Rabatt auf die Miete gegeben. Trotzdem müssen sie für ein Jahr umgerechnet noch 2700 US-Dollar bezahlen, rechnet Jhonny vor. Miete ist in Haiti normalerweise im voraus fällig. Über das Sozialprogramm des Krankenhauses hat Marie Julie bei der Entlassung sogar eine Unterstützung bekommen. Doch Jhonny ist unzufrieden. Niemand sehe, dass Julie, wie er sie nennt, ein Opfer sei und weitere Hilfe brauche, schimpft der 38-Jährige mit dem schmalen Schnäuzer über der Oberlippe. Sie müsse ins Lebensmittelprogramm aufgenommen werden: „Gott macht keine Unterscheidung zwischen den Opfern, es ist ungerecht, dass sie nichts kriegt.“

Einen unterernährten Eindruck macht das Paar allerdings nicht gerade, Jhonny trägt eine schicke neue Armbanduhr mit weißem Armband, ein Fußballshirt in Schwarz-Rot, Jeans und Turnschuhe. „Alle denken, Julie geht es gut, sie hat ein Haus und einen Juristen zum Mann. Aber ich bin noch Student, ich muss meine Abschlussarbeit schreiben, ich finde jetzt keinen Job“, sagt er. Wenn er die Arbeit über Haitis Straßenkinder Ende des Jahres fertig habe, bekomme er seine Lizenz, mit der könne er dann endlich Geld verdienen. „Das wird mein Geburtstag sein!“

Jhonny weiß von all dem Geld, das aus der ganzen Welt seit dem Beben ins Land geflossen ist, auch wenn bisher nur ein Bruchteil der zwei Milliarden Dollar, die allein für 2010 von der internationalen Gemeinschaft zugesagt wurden, angekommen sind. „Was hat die Regierung von Präsident René Préval damit gemacht?“, fragt er.

Doch nicht nur Préval und seine Leute haben ihren Anteil daran, dass der Karibikstaat zwölf Monate danach nicht den Eindruck macht, als gehe hier zügig etwas voran. Zwar ist die Hauptstadt schon sehr viel aufgeräumter als im Sommer, aber überall liegen noch zusammengestürzte Häuser, haben sich die Menschen auf dem ehemaligen Golfplatz, vor den merkwürdig verrutschten Trümmern des Präsidentenpalastes, auf dem Place La Pierre in Petion-Ville und wie die Lager alle heißen, eingerichtet. Manche einheimischen Politiker in Ministerien wie auf kommunaler Ebene beklagen die „Überversorgung“ in diesen Lagern, die Konzentration der Helfer auf die zahllosen Camps. Seit Ausbruch der Cholera im Herbst verteilen Hilfsorganisationen wegen der schlechten Hygieneverhältnisse auch wieder gratis Wasser, das normalerweise in Haiti einige Gourdes kostet.

Warum sollten die Menschen sich da um eine andere Behausung kümmern? Vor dem Beben hatten die meisten keinen Wasseranschluss, geschweige denn eine Toilette in der Nähe. Für viele ist das Leben im Lager trotz aller Probleme bequemer. Da es zu wenig Arbeit gibt und die meisten ihre Jahresmiete vor dem Beben bereits bezahlt, aber davon nichts zurückbekommen haben, tun sich viele Opfer außerdem schwer, jetzt eine Wohnung zu bezahlen, selbst wenn sie eine fänden.

Und die internationale Hilfe wirkt alles andere als gut koordiniert. Zu viele Eigeninteressen, sei es von Hilfsorganisationen, sei es von denen, die die Hilfe bekommen, haben seltsam anmutende Folgen. Im Flur des Hopital Espoir zum Beispiel steht eine olivfarbene Metallbox, „Deutsche Hilfsgüter für Haiti“ ist darauf zu lesen: ein OP-Tisch aus Bundeswehrbeständen. Keiner braucht den hier, die Hospitalchefin hat rege in den USA und Deutschland Spenden akquiriert. Jetzt könnte sie OP-Tische stapeln, also steht der hier unbeachtet auf dem Flur. Die Zimmer sind frisch saniert, in den OP-Sälen der Privatklinik, die vor einem Jahr zum Teil zusammenzustürzen drohte, stehen zwei massige Narkosegeräte, beste deutsche Technik, nebenan ein amerikanisches Modell. Wenn da mal etwas kaputtgeht, kann schwer jemand die Methode „aus zwei mach eins“ nutzen. Wenn alle Geräte identisch wären, könnte eins im Notfall als Ersatzteillager für die anderen dienen, denn selten fällt ein Gerät komplett aus, aber deutsche und amerikanische Technik sind nicht kompatibel. In einem Lagerraum stehen auf dem Boden und in Regalen Kisten mit Verbandsmaterial und hochwertige OP-Bestecke durcheinander und übereinander. Wissen die Mitarbeiter eigentlich, was sie hier alles stehen haben? Hatten sie wirklich bisher nur zu wenig Zeit, um das alles zu sortieren?

Marie Julie und Jhonny ziehen drei Schuhe aus einer Plastiktüte. Einen weißen mit kleinen Herzchen, einen schwarzen und ein weiß-blaues Schläppchen. Marie Julies linkes Bein ist nach dem komplizierten Bruch verkürzt. Ihr Bein haben deutsche Ärzte von der Kaufbeurer Hilfsorganisation Humedica gerettet, beim zerquetschten linken Arm war nichts mehr zu machen, als Marie Julie damals nach mehreren Tagen unter den Trümmern der Uni hervorgezogen wurde. Dort hatte sie im Labor gearbeitet.

Heute trägt Marie Julie weiß-blaue Joggingschuhe, der linke ist um einige Zentimeter erhöht. So etwas möchte sie auch für die drei anderen Schuhe haben. Sie legt den Kopf mit den glatt gekämmten Haaren schräg: „Und der Arm?“, fragt sie und zeigt auf ihren sauber verbundenen Stumpf. Schon im Sommer hat sie die Ärzte ständig nach einer Prothese gefragt.

„Die wird ihr niemand machen, jedenfalls nicht in den nächsten zwei Jahren“, sagt Wendell Endley trocken. Der 45-jährige Orthopädietechniker aus Kapstadt arbeitet seit 28 Jahren als Prothesenfachmann, seit zehn Jahren in Krisen- und ehemaligen Kriegsgebieten wie Vietnam, Kosovo und nun in Haiti. Armprothesen sind teuer und kompliziert zu machen, nur wenige Spezialisten können das. Die Hilfsorganisationen schätzen, dass rund 1500 bis 2000 Amputierte in Haiti eine Prothese brauchen, noch mehr sogenannte Orthesen, Manschetten zur Unterstützung nach den schweren Verletzungen. Experten gehen davon aus, dass rund zwei Drittel Bein-, ein Drittel Armprothesen sein müssten.

Wendell Endley baut im Espoir ein Prothesen- und Orthesenprogramm auf, dort sollen auch Haitianer geschult werden, denn diese Patienten brauchen lebenslange Nachsorge. „Es ist nicht damit getan, ein Bein oder einen Arm anzufertigen“, sagt Wendell Endley. Bei Armprothesen mit ihren Gelenken gibt es noch ein anderes Problem. „Das Greifen mit den großen Muskeln funktioniert recht schnell“, erklärt der untersetzte weiße Afrikaner mit hoher Stirn und rotblondem Bart. „Aber die Finger einer Hand bewegen zu lernen, das ist verdammt harte Arbeit.“ Viele Patienten geben schon nach wenigen Wochen auf. „Dann landet der Arm in irgendeiner Ecke“, seufzt Endley.

Dass jemand auf die Idee kommen könnte, in diesem „dreckigsten Land, das ich je gesehen habe“, elektrische Prothesen für 20 000 bis 100 000 Dollar das Stück anzubieten, hält er für völlig ausgeschlossen. Wendell Endley kann verstehen, dass Marie Julie sich wieder komplett mit allen Gliedern sehen will. „In Haiti können die Amputierten wegen des Voodoo auch stigmatisiert werden“, sagt er. Aber für ihn steht fest, dass es besser ist, zwei Menschen mit einem Bein die Fortbewegung zu ermöglichen, als einem einen Arm zu hauptsächlich kosmetischen Zwecken anzupassen.

Doch es ist längst nicht so, dass alle Beinamputierten bereits Prothesen hätten. Zum einen wird ein Koordinierungstreffen zur Abstimmung der internationalen Organisationen, auf dem ein Konsens über das weitere Vorgehen gefunden werden soll, immer wieder verschoben. Zum anderen liegt allerhand Material im Zoll fest. Das, so vermuten Insider, liegt aber nicht nur an der weit verbreiteten Korruption in den Ämtern. Alle Anträge auf Freigabe müssen von einem einzigen Zuständigen abgezeichnet werden, so dass sie sich am Ende dort stapeln. Und der Zuständige, so ist in der Hauptstadt zu hören, wird auch von einer Handvoll reicher Familien bedrängt, die im Großhandel ihr Geld verdienen – von zollfrei eingeführten Hilfsgütern aber nichts haben. Sie seien an schleppender Einfuhr interessiert. Wer seine Güter nicht aus dem Zoll bekommt, wird vielleicht doch über sie einkaufen, so die Rechnung dieser Kaufleute, denen das Leid ihrer Landsleute herzlich egal zu sein scheint.

Marie Julie war eigentlich schon weiter als die meisten ihrer Leidensgenossen. Im Sommer hatten sich die Hilfsorganisation Landsaid und die Johanniter zusammengetan und ihren Armstumpf bereits vermessen. Aber die Helfer von Landsaid haben im Dezember, als es in der Folge der Wahlen vom 28. November zu Unruhen kam, erst einmal das Land verlassen. Geschäftsführer Dirk Growe fürchtete um die Sicherheit seiner Leute. Sie sollen erst wiederkommen, wenn das Wahlergebnis klar ist. Aber das wird dauern. Denn die Wahlkommission hatte nach heftigen Protesten eine Neuauszählung der Stimmzettel angeordnet.

Für Jhonny Dumé ist klar, dass nur der populäre Sänger Michel Martelly als neuer Präsident das Chaos in seinem Land beenden könnte. Der habe sich als einziger der Kandidaten nach dem Beben um die Leute gekümmert, Verletzte besucht. Den vom bisherigen Präsidenten Préval geförderten Kandidaten Jude Célestin wolle kein Haitianer. Ebenso wenig wie Mirlande Manigat, die Ehefrau des früheren Präsidenten. Der gehe es nicht um Haiti, sondern nur um die Macht.

Jhonny redet sich inzwischen in Rage. „Die haitianischen Politiker wollen nichts für ihr Land tun“, schimpft er vor sich hin. Und er fürchtet sich. Wenn die Stimmen endlich ausgezählt sind und es dann zu einer Stichwahl kommt, rechnet er mit neuen Ausschreitungen. Besonders die Anhänger von Michel Martelly seien zu allem bereit. Er und seine Julie werden dann nicht auf die Straße gehen. Schon gar nicht, wenn Martelly nach der Neuauszählung wieder nicht in die Stichwahl kommen sollte. „Dann wird die Situation furchtbar werden. Das Volk schläft nicht“, prophezeit er. „Wir haben Angst, jetzt zu sterben. Wir sind so jung.“

Einstweilen aber werden sie am Mittwoch, dem Jahrestag des Bebens, für ihre Zukunft beten. Jhonny zu Hause, Marie Julie will am Jahrestag des Bebens in die Kirche gehen. Aber nicht nebenan vom Espoir, wo sie noch immer ihre Choräle per Verstärker in die Nachmittagshitze brüllen. Die da, die seien ja verrückt, meinen die beiden.

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