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Michael Kellner ist seit 2013 Bundesgeschäftsführer der Grünen.

© promo

Exklusiv

Ein Novum in Corona-Zeiten: Grüne planen ersten virtuellen Parteitag

Reden nicht auf der Bühne, sondern aus dem Wohnzimmer: Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner über seine Pläne für den ersten Online-Parteitag der Partei.

Herr Kellner, wie bleiben die Grünen in diesen Zeiten kampagnenfähig? 

Natürlich wird auch die Parteiarbeit im Moment wahnsinnig auf den Kopf gestellt. Wir suchen nach neuen Wegen, um auch in diesen Zeiten politische Diskussionen zu ermöglichen. Vor ein paar Tagen habe ich virtuell mit zwei Verfassungsrechtlern und unserer parlamentarischen Geschäftsführerin Britta Haßelmann über Bürgerrechte und Freiheit in Zeiten der Krise debattiert. Heute spreche ich mit Igor Levit und Claudia Roth über Kunst, Kultur und Solidarität. Erst gibt Igor Levit um 19 Uhr ein Klavier-Konzert, danach laden wir zum Talk ein. Jeder der reinhören und mitdiskutieren möchte, kann sich mit wenigen Klicks dazuschalten.

Und wie geht die Parteiarbeit weiter?
Wir wagen ein demokratisches Experiment: Am 2. Mai laden wir zu unserem ersten komplett digitalen Parteitag ein. Wir wollen über die Auswirkungen der Corona-Krise diskutieren und die Herausforderungen angehen.

Wie kann man sich das konkret vorstellen?
Es wird ein kleiner Parteitag mit 100 Delegierten, alle nehmen per Video teil. Es wird gesetzte und geloste Redebeiträge geben, wie sonst auf Grünen-Parteitagen auch – nur werden die Reden nicht auf der Bühne, sondern im eigenen Wohnzimmer gehalten. Abgestimmt wird dann online. Unsere Antragsarbeit war auch bisher schon digital, da ändert sich nichts. Jeder kann also Änderungsanträge stellen.

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Parteitage leben auch von den informellen Gesprächen am Rande.
Die sind in Videokonferenzen unglaublich gut möglich. Man kann viele Nebengespräche im Chat führen. Man muss nur gut aufpassen, dass man private Chatnachrichten nicht aus Versehen an alle Teilnehmer schickt. Sonst sind private Absprachen plötzlich für alle lesbar. Soll es schon gegeben haben.

Was wird Ihnen bei einem virtuellen Parteitag am meisten fehlen?
Ich vermisse bei solchen Formaten die direkte Reaktion aus dem Publikum. Normalerweise bekommt man sofort mit, wie andere auf ein Argument reagieren.

Wenn das Experiment des virtuellen Parteitags glückt, können Sie dann künftig auch die Listen für Kommunalwahlen oder die Bundestagswahl auf diesem Wege aufstellen?
Digitale Abstimmungen bekommen wir hin, digitale Wahlen können wir aus rechtlichen Gründen nicht durchführen. Das gilt sowohl für die Wahl von Parteivorständen wie für die Aufstellung von Wahllisten. Dafür bräuchte man eine Änderung im Parteiengesetz.

Das heißt, in nächster Zeit muss das Parteiengesetz geändert werden?
Die Parteien sind gemeinsam gefordert, darüber nachzudenken, ob die Wahlgesetze oder das Parteiengesetz geändert werden müssen – gerade jetzt in der Corona-Krise ist diese Debatte wichtiger denn je. Auch wenn es technisch nicht so einfach ist, Wahlen digital so zu organisieren, dass das Wahlgeheimnis gewahrt bleibt und das Wahlergebnis überprüfbar ist, sollten wir das Thema angehen.

Hintergrund-Informationen zum Coronavirus:

Vor einigen Wochen haben wir über Klimaschutz diskutiert, mittlerweile überlagert die Corona-Epidemie alles. Was bedeutet das für eine Partei wie die Grünen?
Es ist völlig klar, dass momentan die persönlichen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen von Corona dominieren. Das beschäftigt auch uns enorm. Ich bin mir aber sicher, dass der Klimaschutz wieder einen höheren Stellenwert bekommen wird, wenn wir die Corona-Krise im Griff haben.

Sie haben keine Sorge, dass das Thema von der politischen Tagesordnung verschwindet?
Viele Menschen spüren seit dem Dürresommer 2018, dass wir mitten in der Klimakrise leben. Das Thema wird wiederkommen. Weil die Umwälzungen so gravierend sind. Die Bewältigung der Klimakrise bleibt eine riesige Aufgabe.

Manche argumentieren, dass Deutschland wegen der Corona-Krise wieder eine Chance hat, seine Klimaziele zu erreichen, etwa weil der Flugverkehr mit seinen Emissionen zum Erliegen gekommen ist. Wie wollen Sie erklären, dass trotzdem weiterhin Investitionen in Klimaschutz nötig sind?
Auch nach der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 sind die Emissionen durch das angekurbelte Wirtschaftswachstum wieder hochgegangen. Selbst wenn es vorübergehend Einsparungen bei den CO2-Emissionen geben sollte, müssen wir unsere Art zu wirtschaften grundlegend ändern, um die Klimakrise zu stoppen.

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Es gibt einzelne Stimmen aus der Umweltbewegung, die sich darüber freuen, dass durch die Ausbreitung des Corona-Virus auch ein Teil der klimaschädlichen Produktion zum Stillstand gekommen ist. Können Sie das nachvollziehen?
Ich kann mich nicht darüber freuen. Im Gegenteil: Es ist absolut zynisch, wenn sich Menschen über die aktuellen Emissionsminderungen freuen. Denn der Preis dafür ist viel zu hoch! Für uns ist klar: Wir wollen das Klima retten, ohne Freiheit aufzugeben oder Arbeitsplätze zu verlieren. Klimaschutz kann nur gelingen, wenn wir ein nachhaltiges Wirtschaften hinbekommen. Natürlich kann es gut sein, dass sich durch Corona längerfristig manche Verhaltensweisen ändern. Sicher wird in Zukunft nicht mehr jede Geschäftsreise stattfinden, digitales Arbeiten wird eine größere Rolle spielen. Es kann jedoch keine Antwort auf die Klimakrise sein, dass Menschen flächendeckend zu Hause bleiben müssen. 

Die Bundesregierung bringt gerade Rettungspakete in Milliardenhöhe auf den Weg. Haben Sie die Sorge, dass nach der Krise kein Geld mehr für Investitionen in Klimaschutz übrig ist?
Um aus der Corona-Krise rauszukommen, muss massiv investiert werden. Es wäre aber unvernünftig, nur in Beton und Abgase zu investieren. Stattdessen braucht es Investitionen in zukunftsfähige Wirtschaftsmodelle. Wir werben schon lange dafür, mit grünen Ideen schwarze Zahlen zu schreiben. Der Green New Deal ist ein Ansatz, mit dem wir einen Ausweg aus der Krise beschreiben können, denn er erschließt auch neue, zukunftsträchtige Geschäftsfelder. Meine große Sorge ist allerdings, dass die Corona-Krise bei vielen Unternehmen die Mittel verschlingt, die für die sozial-ökologische Transformation notwendig sind. Umso wichtiger ist es, das von staatlicher Seite der nötige Umbau gleich mitgedacht wird.

Michael Kellner ist seit 2013 Bundesgeschäftsführer der Grünen. Der 42-Jährige stammt aus Thüringen und lebt heute mit Frau und zwei Kindern in Berlin.

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