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Politik: „Ein sozialistisches Deutschland war verzichtbar“

Sowjetische Panzer erstickten den Aufstand. Doch kurz zuvor hatte der Moskauer Geheimdienstchef Berija die SED noch zur Mäßigung gedrängt

Die wenigen noch lebenden Akteure in Russland schützen Unpässlichkeit und Terminprobleme vor. Andere, wie der einstige Spionagechef der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland, General a.D. Sergej Kondraschow, haben alle Tschekisten-Ideale längst vergessen und fordern für ein Gespräch Gagen wie Hollywood-Starlets. Die russische Öffentlichkeit weiß kaum etwas vom 17. Juni 1953. Selbst Bildungsbürger halten das Datum meist für den Beginn des Mauerbaus. „Kein Wunder“, meint der Historiker Abdulchan A. Achtamsjan, „die Ereignisse am 17. Juni 1953 in der DDR sind nun einmal kein Ruhmesblatt“.

Achtamsjan, heute Professor am MGIMO, der Kaderschmiede des russischen Außenministeriums und Ko-Vorsitzender der Liga für russisch-deutsche Freundschaft, war damals Germanistikstudent. Von den Ereignissen in der DDR erfuhr er so gut wie nichts: „Die Mitteilungen in der sowjetischen Presse waren sehr spärlich und natürlich tendenziös. Es war von ‚Unruhen’ die Rede, von einem ‚Putsch’ und ‚Schlawinern’.“ Damals, so Achtamsjan, seien die Ereignisse von vielen Seiten extrem politisiert worden. Selbst Augenzeugen hätten es bis heute schwer, sich eine eindeutige Meinung zu bilden.

Rückblick: Am Vormittag des 17. Juni 1953 rollten die ersten sowjetischen Panzer langsam auf das Stadtzentrum Ost-Berlins zu. Zu der Zeit hielt sich die SED-Führung längst unter dem Schutz der Besatzungsmacht in Karlshorst auf – eine funktionierende Regierung gab es nicht mehr. Gegen Mittag rief die Besatzungsmacht das Kriegsrecht aus. Die sowjetische Armee erhielt den Befehl, bis 21 Uhr die Ordnung in der Stadt wiederherzustellen. Insgesamt wurden 20 000 Soldaten in Ost-Berlin zusammengezogen. „Durch die aktive Intervention unserer Truppen begann sich die Situation zu normalisieren“, berichtete der sowjetische Hochkommissar Wladimir Semjonow gegen 14 Uhr nach Moskau. Das Haus der Ministerien sei von Demonstranten angegriffen und nach der Ankunft der Panzer „befreit“ worden, schrieb Semjonow. „Am Polizeipräsidium eröffneten die deutsche Polizei und unsere Truppen das Feuer auf die Demonstranten.“

Gerüchte, dass mancher Soldat den Schießbefehl verweigern wollte, weist Achtamsjan zurück. „Selbst in den US-Annalen heißt es, die sowjetische Armee war gut mobilisiert, diszipliniert und bereit gewesen, beim ersten Befehl zu handeln.“ Auf friedliche Bürger hätten die sowjetischen Soldaten aber nicht geschossen, beteuert er. Das hätten nur Mitarbeiter der DDR-Sicherheitsorgane getan. „Die sowjetischen Soldaten und ihre Panzer standen zunächst hinter ihnen und haben erst geschossen, als sie angegriffen wurden.“

Als einer der Gründe für den 17. Juni gilt neben den wirtschaftlichen Problemen der DDR vor allem die zeitweilige Schwäche Moskaus. „Nach Stalins Tod im März tobte im Kreml ein knallharter Machtkampf, den erst die Verhaftung von Geheimdienstchef Lawrentij Berija beendete.“ Der galt als chancenreichster Erbe Stalins und ist für Achtamsjan eine Schlüsselfigur auch für die Ereignisse in Deutschland.

„ Aus Protokollnotizen geht hervor, dass er kurz vor dem Aufstand bei den deutschen Genossen auf Kurskorrektur und langsameres Tempo beim Aufbau des Sozialismus drängte“, berichtet Achtamsjan. Damit stand Berija in Moskau keineswegs allein: Zwei Wochen vor dem Aufstand zitierte die Spitze der KPdSU die Berliner Genossen in die sowjetische Hauptstadt – und forderte einen radikalen Kurswechsel. Moskau pfiff die beim Aufbau des Sozialismus allzu eifrige SED- Führung zurück. Die Zwangskollektivierung sollte vorerst gebremst und der umstrittene Fünfjahresplan revidiert werden. Berija ging aber mit seiner Haltung noch einen Schritt weiter: „Ein sozialistisches Deutschland war für ihn durchaus verzichtbar, und auch eine Wiedervereinigung hätte er nicht verhindert. Berija wollte damit offenbar im Westen punkten“, vermutet der Historiker. Die russische Presse warf Berija sogar vor, die Ereignisse in der DDR selbst provoziert zu haben.

Wirtschaftliche Probleme trugen ebenfalls dazu bei, dass es zu dem Aufstand kam. Offenbar Böses ahnend, hatte der Ministerrat der UdSSR am 2. Juni 1953 ein Nothilfeprogramm für die DDR beschlossen. Danach gab es in Moskau, wie Achtamsjan sich erinnert, eine Zeit lang keine Kondensmilch mehr. Doch auch auf wirtschaftlichem Gebiet sieht der russische Historiker Fehler Moskaus: „Das Debakel wäre vermeidbar gewesen.“ Die ostdeutsche Industrie hätte nicht demontiert werden dürfen.

Die neue Riege um Parteichef Nikita Chruschtschow hatte die Lektion offenbar begriffen. Achtsamsjan sagt heute: „Als Ulbricht einen Monat nach dem Aufstand zu Besuch kam, um über das weitere Vorgehen zu verhandeln, verzichtete Moskau nicht nur auf Reparationsleistungen, sondern begann mit der Rückführung der Kriegsgefangenen. Vor allem in die DDR, wo Arbeitskräfte dringend gebraucht wurden.“

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