zum Hauptinhalt
Stephan Ernst (Bildmitte, mit seinen Anwälten) nahm das Urteil regungslos zur Kenntnis.

© Jan Hübner/Imago

Ein Urteil und die Folgen: Weshalb der Lübcke-Prozess ohne Klärung endet

Das Urteil im Gerichtsprozess um den Mord an Walter Lübcke ist gesprochen. Was bleibt: Unzufriedenheit bei dessen Familie und ein grinsender Rechtsextremist.

Wieder und wieder haben sie es hinter sich gebracht. Sind den Weg aus ihrem Heimatdorf Wolfhagen-Istha bei Kassel hinuntergefahren zum Oberlandesgericht in Frankfurt am Main. So, wie sie am Donnerstagmorgen eintreten in Saal 165 C, dunkel gekleidet, den Blick starr nach vorn gerichtet, einander dicht folgend, erinnert das jedes Mal an eine Prozession.

Vorn die Frau und Mutter, Irmgard Braun-Lübcke, dahinter die beiden erwachsenen Söhne, Jan-Hendrik und Christoph. Erst als sie sitzen, schauen sie hinüber zu den beiden Männern, die als Haupttäter und als Gehilfe angeklagt sind, ihren Ehemann und Vater getötet zu haben, erschossen aus einem Meter Entfernung.

Seit eineinhalb Jahren ist Walter Lübcke tot. An diesem Donnerstag, dem 45. Verhandlungstag im Prozess gegen seine Mörder, fällt das Urteil: Der Angeklagte Stephan Ernst wird für schuldig befunden und zu lebenslanger Haft verurteilt, das Gericht stellte zudem eine die besondere Schwere der Schuld fest. Eine an die Haftstrafe anschließende Sicherungsverwahrung behielt sich das Gericht vor.

Zum ersten Mal sind im Deutschland der Nachkriegszeit zwei Rechtsextreme angeklagt, einen Politiker ermordet zu haben. Der Prozess ist aber auch besonders, weil davor eine gesellschaftspolitische Entwicklung steht, die Deutschland in den vergangenen fünf Jahren geprägt hat.

Das Erstarken des rechten bis rechtsextremen Rands, der mit der AfD seit 2017 auch im Bundestag vertreten ist. Es war Walter Lübcke, der die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland bei einer Bürgerversammlung lautstark verteidigt hatte.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Seine Sätze wurden zum Youtube-Clip und Projektionsfläche für tausendfach formulierten Hass. Bei den Männern, die das Video einst erstellt hatten, wurde aus diesem Hass ein Entschluss.

„Dem Lübcke etwas antun“, so formulierte es der Hauptangeklagte Stephan Ernst. Und so liegt an diesem Donnerstag im Oberlandesgericht Frankfurt eine Spannung in der Luft, die weit über die Frage hinausgeht, welche Strafen dieser Tat gerecht werden.

53 Zeugen und neun Sachverständige

Müsste man einen Richter zeichnen, ein Mann wie Thomas Sagebiel würde einem vielleicht einfallen. 64 Jahre alt, grauweißes Haar, grauweißer Bart. Noch im Hereinkommen bedeutet er den im Saal Versammelten am Donnerstag, sich zu setzen.

53 Zeugen und neun Sachverständige hat Sagebiel während dieses Prozesses geladen. Er hat wenige Beweise gefunden – etwa die DNA von Stephan Erst am Hemd des Opfers und an der Tatwaffe –, dafür umso mehr Indizien. Er hat das Haus der Lübckes in 3D visualisieren lassen, Blumenbeete analysiert und die Psyche der beiden Angeklagten. Der eine, Stephan Ernst, hat geredet, drei Mal hat er gestanden und dabei stets eine etwas andere Tatversion präsentiert. Der andere dagegen, Markus H., hat geschwiegen, so lange, bis Sagebiel ihn aus der Untersuchungshaft entlassen musste.

Mit Schildern und Plakaten erinnern Demonstranten vor dem Landgericht an Walter Lübcke.
Mit Schildern und Plakaten erinnern Demonstranten vor dem Landgericht an Walter Lübcke.

© Boris Roessler/ dpa

So ist am Ende dieses Prozesses eine Sache klar und eine zweite völlig offen. Klar ist: Stephan Ernst hat Walter Lübcke erschossen. Offen ist: War er allein am Tatort? Und wenn ja: Welche Rolle spielte dann der Mitangeklagte Markus H.?

Der Generalbundesanwalt hat sich bereits entschieden, dass er das Urteil vom Bundesgerichtshof überprüfen lassen will. Der Vertreter der Bundesanwaltschaft kündigt an, in Revision zu gehen. Dabei geht es um den Freispruch von Stephan Ernst im Fall eines mitverhandelten Messerangriffs auf einen irakischen Flüchtling sowie den Freispruch für den Mitangeklagten Markus H. von der Mittäterschaft am Lübcke-Mord.

[Mehr Hintergründiges zu Politik und Gesellschaft. Und mehr Nützliches für Sie. Testen Sie Tagesspiegel Plus: Jetzt 30 Tage kostenlos.]

Stephan Ernst ist es, dessen Strafe Sagebiel zuerst verkündet. Ernst ist blass, beinahe wächsern. Die Hände hat er im Schoss gefaltet, den Blick in eine undefinierte Halbdistanz gerichtet. Er bleibt regungslos, als er Sagebiels Sätze hört: „...schuldig des Mordes an Dr. Walter Lübcke...“ Und dann:“ Die Schuld des Angeklagten wiegt besonders schwer.“ Das bedeutet, dass Ernst auch nach 15 Jahren nicht unbedingt auf Freilassung hoffen kann. „Das Gericht behält sich vor, die Sicherungsverwahrung anzuordnen.”

Bei guter Führung ist er eines Tages wieder frei

Die Sicherungsverwahrung ist das schärfste Schwert des deutschen Strafrechts. Wäre sie gegen Ernst direkt angeordnet worden, hätte der kaum eine Chance gehabt, jemals wieder frei zu kommen. Dass der Senat sie Ernst nur auf Vorbehalt ausspricht, kann bedeuten, dass er bei guter Führung und wenn mehrere Gutachter zum Schluss kommen, dass er keine Gefahr mehr für die Öffentlichkeit darstellt, eines Tages wieder frei kommt.

Er ist jetzt 47 Jahre alt, wird also, wenn überhaupt, ein alter Mann sein, bevor er das Gefängnis verlassen kann. Keine äußerliche Regung verrät, was in Ernsts Kopf vorgeht.

Der Richter erklärt, Ernsts Geständnisse hätten sich – auch wenn der das vielleicht noch nicht so sehen könne – mildernd auf sein Strafmaß ausgewirkt.

Walter Lübcke war im Juni 2019 auf der Terrasse seines Hauses erschossen worden.
Walter Lübcke war im Juni 2019 auf der Terrasse seines Hauses erschossen worden.

© Ralph Orlowski/Reuters

Ganz zu Beginn des Prozesses war Sagebiel es gewesen, der Ernst zu einem Geständnis geraten hatte. Zwar habe das Gericht keinen Spielraum bei der Haftstrafe und der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld gehabt, dafür habe Ernst aber nun die Möglichkeit, mit einem Aussteigerprogramm für Rechtsextreme zusammenzuarbeiten und damit die Sicherheitsverwahrung zu vermeiden. Und noch etwas sagt Sagebiel. Etwas, das einen zweiten Menschen im Gerichtssaal betrifft.

Der Nebenkläger Ahmad I. sitzt im blauen Anzug gleich hinter der Familie Lübcke. I. ist ein junger, ausgesprochen höflicher Mann, meistens beugt er sich weit hinüber zu seinem Dolmetscher, der die Verhandlung Arabische übersetzt. I. kam 2015 als Asylbewerber aus dem Irak nach Deutschland und landete ausgerechnet in jener Unterkunft in Lohfelden, für die Walter Lübcke sich so stark gemacht hatte. Als er im Januar 2016 auf dem Weg in diese Unterkunft war, attackierte ihn ein unbekannter Mann auf einem Fahrrad mit einem Messer und verletzte ihn schwer.

Im Zweifel für den Angeklagten

Während der Ermittlungen geriet auch Stephan Ernst ins Visier der Polizei, die Spur verlor sich jedoch. Erst als im Zuge der Ermittlungen zum Mord an Lübcke bei Ernst ein Messer mit DNA-Spuren gefunden wurde, die Merkmale enthielten, die zu I. gehören könnten, rollten sie den Fall neu auf, die Bundesanwaltschaft brachte die Tat zusammen mit dem Mord an Lübcke zur Anklage.

Die gefundene DNA, stellt der Richter heute fest, sei „nicht in naturwissenschaftlich tragfähiger Weise dem Opfer zuzuweisen“. Ernst sei deshalb nach dem Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ vom Vorwurf der versuchten Tötung freizusprechen.

Markus H., ein dicklicher, alleinstehender Leiharbeiter, auch er Rechtsextremist und Waffennarr, sitzt zwei Reihen vor Stephan Ernst und damit nur ein paar Schritte entfernt von Irmgard Braun-Lübcke. Kennen gelernt haben sich Ernst und H. vor zwanzig Jahren in der Kasseler „Kameradschaftsszene“, 2011 traf Ernst H. bei der Arbeit für einen Kasseler Bahntechnikhersteller wieder. Schnell stellten beide fest, dass sie weiterhin ihre rechte Gesinnung teilen, besuchten AfD-Demos und schossen im Schützenverein und später auch im Wald – laut Stephan Ernst zum Beispiel auf eine Maske mit dem Konterfei Angela Merkels. Auch auf die Bürgerversammlung in Lohfelden gingen beide gemeinsam. Markus H. war es, der ein Video mit Aussagen Walter Lübckes bei Youtube hochlud.

Der Mitangeklagte Markus H. (im Bild links) machte aus seiner rechtsextremen Gesinnung während des Prozesses kein Hehl.
Der Mitangeklagte Markus H. (im Bild links) machte aus seiner rechtsextremen Gesinnung während des Prozesses kein Hehl.

© imago images/Jan Huebner

DNA-Spuren von H. fanden sich keine am Tatort. Noch tauchten sonstige Beweise für seine Anwesenheit auf der Terrasse der Lübckes in jener Juninacht auf. Stephan Ernst bekräftigte gleich in seinem ersten Geständnis kurz nach der Festnahme, alleine gehandelt zu haben. Erst, nachdem er bereits ein halbes Jahr in U-Haft gesessen hatte, revidierte er seine erste Einlassung und gab eine zweite ab. Es sei in Wahrheit Markus H. gewesen, sagte Ernst nun den Ermittlern, der Lübcke erschossen habe, allerdings unabsichtlich. Gemeinsam hätten sie Lübcke eine Abreibung verpassen wollen. Dabei habe sich ein Schuss gelöst.

Eine Version, die Ernst bald nach Prozessbeginn widerrief – um eine dritte zu präsentieren. Am achten Prozesstag ließ er seinen Anwalt vortragen, er selbst habe Lübcke erschossen, Markus H. aber habe neben ihm gestanden.

Die Familie glaubt dem Mörder

Die Bundesanwaltschaft glaubt Ernsts dritter Version nicht. Auch die Richter des Oberlandesgerichts zweifelten während des Prozesses daran. Sie ließen Markus H. aus der Untersuchungshaft frei.

Familie Lübcke dagegen bezweifelt, dass Stephan Ernst in der Tatnacht alleine war. Im Plädoyer zählte Holger Matt, Anwalt der Familie, 30 Punkte auf, die dafür sprächen, dass Markus H. am Tatort gewesen sei. .

Beobachtete man Ernst und H. während des Prozesses, konnte man leicht meinen, H. sei der Hauptangeklagte. Grinsend präsentierte er sich dem Gericht, mehrfach monierten vor allem die Lübckes diesen Gesichtsausdruck.

H. grinste auch dann noch, als der Senat sehr detailliert die intimen körperlichen Folgen des Messerangriffs auf Ahmad I. erfragte und der sich genierte, genauer zu antworten. Aber auch sonst verstörten die Details, die über H. bekannt wurden. Einer Freundin gegenüber soll er angekündigt haben, sich im Fall einer tödlichen Krankheit mit einem Sprengstoffgürtel in die Luft sprengen zu wollen und dabei „möglichst viele Kanaken“ mit in den Tod reißen zu wollen. Als Stiftehalter auf seinem Schreibtisch soll H. eine leere Dose des Auschwitz-Gifts Zyklon B verwendet haben.

Walter Lübckes Witwe Irmgard Braun-Lübcke (im Gespräch mit ihrem Anwalt) und ihre Söhne glauben, dass Stephan Ernst nicht allein gehandelt hat.
Walter Lübckes Witwe Irmgard Braun-Lübcke (im Gespräch mit ihrem Anwalt) und ihre Söhne glauben, dass Stephan Ernst nicht allein gehandelt hat.

© Kai Pfaffenbach/ AFP

Aber auch wegen Beihilfe zum Mord, wie es die Anklage gefordert hatte, will der Senat H. am Ende nicht belangen. Die Beweisaufnahme habe nicht ergeben, dass die gemeinsamen Schießübungen mit H. Stephan Ernst in seinem Ansinnen bestärkt hätten, Walter Lübcke zu ermorden. Es sei dazu nicht einmal zweifelsfrei erkennbar, dass Markus H. nur für möglich gehalten habe, dass sein Kumpel Ernst Lübcke etwas antue.

So passiert am Ende, was manche befürchtet hatten: Richter Sagebiel verkündet, dass Markus H. nur wegen eines Waffendelikts zu einem Jahr und sechs Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt wird – und damit den Saal als freier Mann verlässt. Christoph Lübcke, der Sohn Walter Lübckes, schüttelt den Kopf.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false