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Politik: Eine Bewegung gegen Labour und Tories

Der Aufschwung der Liberaldemokraten spiegelt die Sehnsucht vieler Briten nach einer neuen Politik

Ein älterer Herr aus dem Publikum formulierte in der TV-Debatte am Donnerstag , was den Briten im Wahlkampf unter den Nägeln brennt. „Gentlemen“, fragte Frank Hemsworth aus Whitney, „ist angesichts unserer finanziellen Schwierigkeiten die Zeit gekommen, politische Differenzen beiseite zu stellen und eine Regierung aus den besten Talenten aller Parteien zu bilden?“ Seit der Liberaldemokrat Nick Clegg in der ersten TV-Debatte in der Vorwoche den Zuschauern erklärte, „es gibt eine Alternative zu den beiden alten Parteien“, sind die Umfragewerte für Cleggs Partei um zehn Prozent gestiegen. Damit könnte Wirklichkeit werden, was er versprach: Ein „hung parliament“, wie die Briten ein Parlament nennen, bei dem keine Partei genügend Parlamentssitze hat, um ohne Hilfe von anderen einen Premier durch eine Vertrauensabstimmung zu bringen.

Hin und wieder wurde Großbritannien schon in der Vergangenheit von einer „Minderheitsregierung“ regiert (immer Labour), die von einer kleineren Partei (immer den Liberalen) toleriert wurde. Aber immer war ein solches „hängendes Parlament“ eine Notlösung, die schnell zu einer Neuwahl führte. Diesmal wird es von vielen Briten als wünschenswerte, sogar optimale Lösung angesehen – eine Art großer Krisenkoalition, wie es sie sonst nur in Kriegszeiten gab. 53 Prozent wollen laut einer Umfrage ein Parlament, in dem keine Partei dominiert.

Warum die Briten ein „hung parliament“ so attraktiv finden, ist leicht zu verstehen. Außenminister David Miliband spricht von einer „Antipolitik-Bewegung“ – als dritte Partei profitieren die „Libdems“ von der zynischen Verachtung der Briten für ihre Politiker nach dem letztjährigen Spesenskandal im Unterhaus. Bevor Clegg sich als Alternative anbot, hatten sie nur die traditionelle Wahl der letzten Jahrzehnte. Auf der einen Seite Labour, mit dem unbeliebten Premier Gordon Brown und einer zweifelhaften Erfolgsbilanz: Irakkrieg, Rezession, der größte Schuldenberg der Friedensgeschichte, aus dem Ruder gelaufene Einwanderung, ein Staat, der mit den besten Absichten Geld verteilte, aber immer autokratischer und verschwenderischer wurde. Und auf der anderen Seite die Konservativen, denen immer noch die Erinnerung an die harten Thatcher-Jahre und der Ruf sozialer Ungerechtigkeit anhaftet. Tory-Chef David Cameron hat diese Angst selbst geschürt, als er eine schnellere, brutalere Haushaltssanierung versprach. Viele halten sein Programm einer Revitalisierung der Gesellschaft gegenüber dem Staat für attraktiv – aber er hat es nicht verstanden, daraus eine griffige Wahlkampfparole zu schmieden.

Liberaldemokrat Clegg ist die Hoffnung für Wähler, die den Wechsel wollen, aber den Tories misstrauen. Ein „hung parliament“ verspricht aber mehr als nur einen sanften Wechsel – ein „Ende der alten Politik“. Clegg meint damit eine Verfassung- und Wahlrechtsreform, die der Preis seiner Unterstützung für Labour oder Tories wäre. Es wäre das Ende des alten Parteien-Duopols. Statt dem auf Gegensatz und klaren Alternativen gebauten politischen System, das in der Regel starke Regierungen produziert, ein „kontinentales“ System, das auf Kompromiss, Konsens und Koalitionen setzt.

„Der Zusammenbruch der alten Politik zeichnet sich schon lange ab“, erklärte Clegg der Londoner Auslandspresse. Seinen Höhepunkt habe das alte System 1951 gehabt, als 91 Prozent der Wähler für eine der beiden großen Parteien stimmten. Seither bröckle der Anteil stetig ab und bei der letzten Wahl waren es nur noch 60 Prozent. Es wächst der Anteil der Splitterparteien, der Nationalistenparteien in Wales, Nordirland und Schottland, der Wechselwähler und der Unzufriedenen, die gar nicht mehr zur Wahl gehen. Großbritannien ist pluralistischer geworden, und das muss die Politik reflektieren.

Die Wahl werde „in den allerletzten Tagen entschieden“, sagt Brown und will nun aggressiver kämpfen. Bis zum 6. Mai soll eine Angststrategie die Wähler für Labour mobilisieren, die Furcht vor Tory-Sparmaßnahmen, die den Aufschwung gefährden würden. Aber viele Kommentatoren glauben, dass Labour die Wahl bereits verloren hat und vor der Selbstzerstörung steht. Labour liegt in den meisten Umfragen auf dem dritten Platz. Vielleicht geht es schon nicht mehr um einen Kampf zwischen Labour und den Tories, oder einen Dreier-Kampf, sondern um zwei Alternativangebote des Wandels: Hart mit den Tories, sanft mit den Liberaldemokraten.

„Wählt Clegg und bekommt Brown“, warnen die Tories, weil Clegg nur Brown an der Macht halten werde. „Entschlusslosigkeit und Lähmung“ wären die Folgen eines „hung parliament“. „Investoren würden sich fragen, ob Großbritannien mit seinen Schulden fertig werden kann“, behauptet Cameron. Ein Koalitionssystem nütze Politikern, nicht der Politik: „Sie können feilschen und verhandeln und sich gegenseitig Jobs und teuere Projekte zuschieben.“ Tatsächlich forderte der schottische Nationalistenführer Alex Salmond die Wähler auf, ein „hung parliament“ zu wählen. Dies sei am besten, um „trostlose Sparmaßnahmen“ der „Londoner Parteien“ zu verhindern und das Beste für Schottland herauszuschlagen.

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