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Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Grünen-Chefin Annalena Baerbock (rechts) am Donnerstag im Bundestag.

© Kay Nietfeld/dpa

Eine Debatte über Leben und Tod: So rang der Bundestag um den richtigen Weg zur Organspende

Der Bundestag hat die Organspende reformiert. Es ging um Freiheit und Verantwortung und die Frage, was der Staat von seinen Bürgern verlangen darf.

Von Robert Birnbaum

Ganz zuletzt klingt Jens Spahn geradezu trotzig. Zwei Stunden lang hat der Bundestag jetzt über die Reform der Organspende debattiert. Als letzten Redner ruft ihn der Sitzungspräsident ans Pult, ausdrücklich den „Abgeordneten“ Spahn, weil er hier nicht als Minister spricht, sondern als der Mann, dessen Antrag die Organspende von Grund auf verändern soll: Jeder Bürger automatisch ein Spender – wer das nicht will, muss widersprechen. Noch einmal rechtfertigt er den Plan. „Ja, es ist eine Zumutung – aber eine, die Menschenleben rettet!“

Doch Spahn ahnt schon, was sein Mitstreiter, der Sozialdemokrat Karl Lauterbach, später offen eingesteht: Das kann er hier und heute nicht gewinnen. Er hebt die Stimme zum letzten Appell. „Der andere Gesetzentwurf ändert an der heutigen Lage nichts!“ Und schiebt rasch noch hinterher: Deshalb werde er dem Konkurrenzmodell später auch dann nicht zustimmen, wenn sein eigener Antrag vorher unterliegen sollte.

Was denn auch sofort passiert. Um 11:20 Uhr beginnt die Abstimmung. Keine Viertelstunde später bildet sich eine aufgekratzte Traube um Grünen-Chefin Annalena Baerbock und den CDU-Mann Hermann Gröhe. Baerbock hat den Antrag zur zweiten Position geschrieben, eine moderate Änderung des geltenden Rechts.

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Gröhe war der Schlussredner für diese Haltung. Baerbock umarmt ihn rasch, andere Grünen-Frauen knuffen den rundlichen Niederrheiner. Jemand hat schon durchgesteckt, was Vizepräsident Wolfgang Kubicki gleich amtlich verkündet. Spahns Antrag erhält 292 von 674 Stimmen. Das sind viele. Aber es ist keine Mehrheit.

Eine Niederlage. Jens Spahn (CDU) konnte nicht genügend Abgeordnete überzeugen.
Eine Niederlage. Jens Spahn (CDU) konnte nicht genügend Abgeordnete überzeugen.

© Stefan Zeitz/imago

Eine Frage des Gewissens: Die Abstimmung war freigegeben

Ob die Debatte im Reichstag noch Einfluss auf das Ergebnis hatte – eigentlich unwahrscheinlich. Seit Monaten beschäftigen sich die Abgeordneten mit dem heiklen Thema. Die Abstimmung ist freigegeben, Partei- und Fraktionsräson sollen keine Rolle spielen. Jeder darf sich in voller Gewissensfreiheit seine Meinung bilden. Aber das heißt natürlich auch: Jeder musste es tun.

Trotzdem sind die zwei Stunden mehr als ein routinierter Austausch von Gründen und Gegengründen. Die Sache verbietet es. Es geht um den Tod, das Leben und um Freiheit und Verantwortung.

Vom Tod erzählt Gitta Connemann. Die Christdemokratin aus dem Emsland hatte einen Mitarbeiter, „32 Jahre, gerade Vater geworden“, als er schwer erkrankte. „Haben Sie schon mal auf einen Anruf gewartet, der Ihr Leben verändern wird?“ fragt sie in den Saal. Ihr Mitarbeiter hat gewartet, „drei Monate, 130.000 Minuten“, rechnet Connemann vor. Der Anruf aus dem Krankenhaus kam nicht. Der Mann starb am 17. Juni, weil sich kein Spenderorgan fand, einer von ungefähr drei Menschen irgendwo in Deutschland an jedem Tag.

„Wir entscheiden heute über Zeit“, sagt Connemann, „Lebenszeit!“ Sie unterstützt Spahns Antrag, weil sie nicht mehr an die Kraft von Appellen glaubt. Theoretisch erklären sich gut 85 Prozent der Deutschen zu willigen Organspendern – die Zahl führen Gegner wie Befürworter eines Kurswechsels an diesem Vormittag an. Aber praktisch, sagt Connemann, verdränge und vergesse die Mehrheit das Problem: Die Ausweise lägen überall herum, die Krankenkassen schicken sie jedem, „aber sie werden nicht ausgefüllt“.

Von der Widerspruchslösung versprechen sich ihre Anhänger nicht nur mehr Spender, sondern geradezu einen Kulturwandel: ein Ende der Verdrängung, eine aktive Entscheidung entweder für oder gegen die Organentnahme. „Darf der Staat von seinen Bürgern eine Entscheidung verlangen?“ fragt Connemann und sagt: Ja. „Wenn wir ihnen weiter die Entscheidung nicht zumuten, müssen wir mit den Folgen leben“, warnt auch der Grüne Dieter Janecek. „Das Recht der Menschen, die mit dem Tod bedroht wird, wiegt im Zweifel höher“, sagt der Linke Matthias Birkwald.

Aber das genau ist der Punkt, an dem sich die Haltungen scheiden. So viel über Zahlen und Fakten gestritten wird – gibt es in Spanien nun wegen der dortigen Widerspruchslösung, trotz ihr oder aus ganz anderen Gründen mehr Spenderorgane? –, so unausweichlich landet die Debatte immer wieder bei der Frage, die Gröhe die entscheidende nennt: „ob der Staat das Selbstbestimmungsrecht des Menschen unter Bedingungen stellen darf“.

Für den CDU-Politiker ist die Antwort klar: „Das Recht auf körperliche Unversehrtheit – ich habe es, bedingungslos, und muss es nicht erst aktivieren!“ Dass sich die Menschen dieses Recht erst durch ein Nein nehmen sollen, wie in Spahns Modell, sei keine kleine Frage; es gehe da um nichts weniger als das „Menschenbild unserer Rechtsordnung“.

Der Verdacht: Spahns Plan setzt auf menschliche Schwäche

Und was ist eigentlich, fragen andere, mit Bürgern, die zum Nein-Sagen kaum imstande sind – Depressive, die über alles andere nachdenken sollten als den Tod, Obdachlose, Sprachunkundige? Mancher Redner stellt den Verdacht in den Raum, Spahns Plan setze geradezu auf die menschliche Schwäche, darauf, dass die Zahl der Nein-Sager klein bleibt aus Trägheit, Entscheidungsschwäche oder Scheu vor dem Gedanken ans Sterben.

Wieder andere ziehen Vergleiche zu Patientenrechten oder dem Datenschutz. Sie müsse jeden fragen, bevor sie ihm eine Spritze gebe, sagt die Ärztin und Grüne Kirsten Kappert-Gonther – aber die Organentnahme soll möglich sein ohne Einwilligung? Andererseits, bei der Spritze geht es nur um den einen Menschen. Bei der Transplantation geht es um zwei, den Sterbenden und den, dem er zum Leben verhelfen könnte.

[Lesen Sie mehr auf Tagesspiegel.de: Das Votum gegen die Widerspruchslösung ist ein Fehler – ein Kommentar von Georg Ismar.]

Doch am Ende überwiegt bei der Mehrheit die Sorge, dass Spahns Modell in allerbester Absicht einen Damm brechen würde, der ab da nicht mehr zu flicken wäre. Wenn der Staat die Organspende zur Regel erklärt, warum dann nicht auch, nur als Beispiel, die Nutzung von Patientendaten zum Wohle der Gesundheitsforschung? Gute Absichten finden sich schnell.

Baerbocks Gegenmodell setzt auf Aufklärung und Ansprache

So fällt die Widerspruchslösung durch. Baerbocks Gegenmodell bekommt eine sehr klare Mehrheit. Es setzt auf Aufklärung und den Versuch, alle Bürger routinemäßig, etwa auf Ämtern, auf die Organspende-Möglichkeit anzusprechen. Auch etliche Spahn-Anhänger stimmen im zweiten Durchgang für dieses Modell. Sie folgen dem Motto „Besser ein paar kleine Schritte, als dass am Ende noch alles beim Alten bleibt“.

Hinterher rechnet Lauterbach in der Lobby vor, dass Spahn und er vielleicht gewonnen hätten, wären die Anträge gegeneinander angetreten. „Beide Seiten waren ungefähr gleich stark“, schätzt er. Aber abgestimmt wird nacheinander, der weitestgehende Antrag zuerst.

Da sei ja klar, dass der erste es immer am schwersten habe, eine Mehrheit zu finden. Lauterbach beschwert sich auch gar nicht darüber. Der Mediziner ist nur sicher, dass der Beschluss von heute das Problem nicht löst: „Ich glaube, dass wir in ein paar Jahren wieder hier stehen.“

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