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Politik: „Eine Diätenerhöhung wäre skandalös“ Bundestagspräsident Wolfgang Thierse über ungemütliche Debatten und Schrecken im Urlaub

IN DER NISCHE Wolfgang Thierse, 1943 geboren, wurde 1976 wegen „unbotmäßiger Reden“ aus dem DDRKulturministerium entlassen und arbeitete dann im Zentralinstitut für Literaturgeschichte am „Historischen Wörterbuch ästhetischer Grundbegriffe“ mit. AUF DER STRASSE Anfang Oktober 1989 schließt er sich dem Neuen Forum an und tritt im Januar 1990 der Ost-SPD bei.

IN DER NISCHE

Wolfgang Thierse, 1943 geboren, wurde 1976 wegen „unbotmäßiger Reden“ aus dem DDRKulturministerium entlassen und arbeitete dann im Zentralinstitut für Literaturgeschichte am „Historischen Wörterbuch ästhetischer Grundbegriffe“ mit.

AUF DER STRASSE

Anfang Oktober 1989 schließt er sich dem Neuen Forum an und

tritt im Januar 1990 der Ost-SPD bei.

AN DER SPITZE

Nach der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 wird Thierse SPD-Fraktionsvize. Diese Position hat er dann auch im Bundestag inne, bevor er 1998 zum Bundestagspräsidenten gewählt wird.

Um das Ansehen der Politiker ist es derzeit nicht zum Besten bestellt. Wie können Volksvertreter in diesen stürmischen Zeiten Solidarität mit dem Volk zeigen?

Indem sie sich der Debatte, die emotional geladen und ungemütlich ist, nicht entziehen. Die Abgeordneten aller Parteien, die für Hartz IV gestimmt haben, haben die Pflicht, zu den Leuten zu gehen und ihnen das zu erklären.

Woher wissen Sie eigentlich, dass die derzeitige Politik der SPD zum Erfolg führt?

Wir sind in einer offenen Situation. Wir haben aus geziemenden Gründen Entscheidungen getroffen. Ob sie nun genau diese Wirkungen haben, die wir mit ihnen verbinden, wird sich erst in der Praxis erweisen, Hartz IV wird erst am 1. Januar 2005 in Kraft gesetzt. Im Augenblick reden wir über Ängste, Befürchtungen, Fehlinformationen, Desinformationen. Das ist ein kommunikatives Problem, keines von Erfahrungen.

Also mangelt es nur an Aufklärung?

Mein Urlaubsquartier in der Schweiz hatte einen Nachteil: Es stand ein Fernsehapparat im Zimmer. Wenn abends die Nachrichten liefen, bin ich fast vom Stuhl gefallen und habe gedacht: Was machen die da? Warum gehen sie nicht gegen diese offensichtlich einseitige oder falsche Darstellung dessen, was da mit Hartz IV beabsichtigt ist, vor? Es hätte schneller und energischer reagiert werden müssen.

Wie denn?

Indem man zum Beispiel auch mal an den Anfang erinnert. Am Beginn der Hartz-Reformen standen Ungereimtheiten bei der Bundesanstalt für Arbeit und damit das Öffentlichwerden eines vorher nie richtig beanstandeten, gleichwohl skandalösen Umstandes: dass die Bundesanstalt und die Arbeitsämter ihre Haupttätigkeit in der Verwaltung von Arbeitslosigkeit sahen und nicht in der Verringerung von Arbeitslosigkeit. Sozial-moralisch ist das für mich der wichtigste Punkt: dass wir nun endlich eine beträchtliche, hoffentlich erfolgreiche Kraftanstrengung unternehmen, eine Million Sozialhilfeempfänger, um die sich vorher niemand gekümmert hat, zum Gegenstand von aktiven Vermittlungsbemühungen machen. Und wir müssen die Motive und Ziele der Sozialreform, gerade weil sie wehtun, wieder ins Zentrum der Kommunikation rücken – nicht nur die Gesetzesdetails.

Welche sind denn die wichtigsten Motive?

Erstens: Deutschland gibt im Kampf gegen Arbeitslosigkeit und zur Linderung ihrer Folgen deutlich mehr Geld aus als vergleichbare europäische Länder, aber mit deutlich geringerem Erfolg. Die Arbeitslosigkeit steigt diskontinuierlich seit 30 Jahren. Das beweist, dass die vorherige Politik gescheitert ist. Zweitens: In den vergangenen 40 Jahren hat sich der Anteil der Ausgaben für Zinsen und Soziales mehr als verdoppelt, mit rasant steigender Tendenz. Das heißt: Der Staat verliert die Fähigkeit, gestaltend tätig zu werden und in die Zukunft zu investieren. Drittens: Wir werden erfreulicherweise alle deutlich älter. Der Effekt aber ist, dass wir alle länger Pensions- und Rentenleistungen und mehr Gesundheitsdienstleistungen in Anspruch nehmen. Im Zusammenhang mit der steigenden Arbeitslosigkeit hat das unsere Sozialsysteme dramatisch verteuert. Viertens: Der wunderbare Vorgang der Öffnung der Grenzen verringerte die eigenen, nationalen Möglichkeiten, sozialstaatliche Politik gegen den allgemeinen Trend ringsum zu machen. Es ist vernünftig, eine Politik zu betreiben, die nicht zum Extrem in Europa neigt, sondern in europäischer Mittellage liegt. Deutlich höhere Steuern und Abgaben in Deutschland schaffen nicht, sondern kosten Arbeitsplätze.

Sind die Ängste der Menschen im Osten vor den Folgen von Hartz IV berechtigt?

Hartz IV ist Auslöser der Proteste, nicht alleiniger Gegenstand. Da geht es um etwas tiefer Sitzendes – um eine Bekräftigung des ostdeutschen Gerechtigkeitsbedürfnisses. Die Ostdeutschen haben größere Erwartungen an Staat und Politik. Man mag das für eine lästige DDR-Prägung halten, aber darin steckt auch etwas viel Freundlicheres: Die DDR-Bürger haben 1989/90 in einem politischen Willensakt die Marktwirtschaft und den sozialen Rechtsstaat gewählt. Daran waren positive Erwartungen geknüpft. Einige sind nach 15 Jahren einfach enttäuscht, dass es trotz aller Anstrengungen nicht gelungen ist, eine verlässliche wirtschaftliche Perspektive und soziale Sicherheit für die Ostdeutschen zu schaffen.

Die PDS ist in zwei Bundesländern Regierungs- und Protestpartei. Es schadet ihr offenbar nicht. Wie erklären Sie sich das?

Der PDS reicht es, dass sie ein starkes emotionales Bedürfnis bedient, ein doppeltes: Sie spricht aus, wie es den Menschen geht. Und sie sagt: Nehmt es denen oben weg und gebt es denen unten. Wie das einer ihrer PDS-Landesminister machen könnte, das sagen sie nicht. Das reicht bis hin zur Demagogie. In dieser so hochgradig emotionalisierten Situation fragen die Menschen gar nicht mehr: Was bieten die uns denn eigentlich an? Und es fällt den Leuten gar nicht mehr auf, dass die Sprache der PDS und die Sprache von DVU und NPD bei der Propaganda gegen Hartz IV identisch sind: „Protest wählen“.

Sozialhilfeempfänger sind das eine, gierige Manager das andere Ende der sozialen Skala. Gibt es eine Anstandsgrenze für die Höhe von Managergehältern?

Eine Reihe von Managern bediente sich in obszöner Weise. Und deren Einkünfte stehen in keinerlei erklärbarem Verhältnis zu ihrer Arbeitsleistung. Das erregt die Menschen und das halte auch ich für moralisch anstößig. Aber es ist schwierig, darauf mit einer gesetzlichen Regelung zu reagieren. Wichtig ist, dass die Gesellschaft den Druck erhöht: um die Offenlegung der Managergehälter und klare Regeln in der Wirtschaft über die Erfolgsabhängigkeit der Gehälter zu erreichen.

In diesen Zusammenhang würde auch gehören, Diäten, Altersversorgung und Übergangsgelder der Politiker infrage zu stellen.

Ich habe bereits im März 2003 den Fraktionen des Bundestags vorgeschlagen, in dieser Wahlperiode auf eine Diätenerhöhung zu verzichten. Eine Erhöhung in dieser Situation wäre politisch und moralisch skandalös. Bei der Altersversorgung sollte man über mehr Eigenbeteiligung der Abgeordneten nachdenken. Man muss allerdings wissen, dass das eine mühselige Operation ist. Eine Systemveränderung, die nicht zu erheblicher finanzieller Entlastung führt. Übrigens haben wir die Einschnitte im Gesundheitsbereich auf die Abgeordneten übertragen.

Welche Rolle spielt in einer selbstbewusster gewordenen Europäischen Union der Bundestag überhaupt noch?

Eine Vielzahl wichtiger Entscheidungen werden mittlerweile in Europa getroffen. Das ist gut so. Jetzt geht es darum, dass wir entsprechend der EU-Verfassung in jedem Fall immer neu prüfen, ob die anstehende Entscheidung auf europäischer Ebene getroffen werden muss oder ob sie nicht auf die nationale oder gar regionale Ebene gehört. Die so genannte Subsidiaritätskontrolle wird eine der wichtigsten Aufgaben der nationalen Parlamente.

Wie wollen Sie diese Kontrolle ausüben?

Für Einsprüche der Parlamente sind Sechs-Wochen-Fristen einzuhalten. Im Bundestag überlegen wir daher, ob wir eine Art Frühwarnsystem einrichten. Ich plädiere dafür, dass der Bundestag selbst eine Außenvertretung in Brüssel haben muss, damit wir möglichst früh heranreifende Entscheidungen wahrnehmen und darauf Einfluss nehmen können. Die Vertretungen der 16 Bundesländer in Brüssel machen uns ja vor, wie das funktioniert. Wichtig ist auch, dass die nationalen Parlamente viel stärker als bisher zusammenarbeiten im Bereich der Ausschüsse, bei den Präsidien und Fraktionen. Wir brauchen so etwas wie ein europäisches Netzwerk der Parlamente.

Das Gespräch führten Gerd Appenzeller, Stephan-Andreas Casdorff und Matthias Schlegel. Das Foto machte Mike Wolff.

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