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Politik: Eine Frage der Buchhaltung

Öffentliche Bibliotheken sollen dem Bürger Bücher und Informationen zugänglich machen. Das ist seit Jahrhunderten als wichtig erkannt – und kostet Geld, das ihnen keiner geben will.

Der Mann hat die Faust geballt und losschnellen lassen, kraftvoll und zielsicher. PENG! Sie trifft das historische Schriftstück an zentraler Stelle, dass es knallt. Es ist ein kolossales Geräusch, in dieser Umgebung erst recht. Stadtbibliothek Lübeck, zweiter Stock, Schabausaal. Da, wo sich tausende Bücher aus vergangenen Jahrhunderten in papierschonender Kühle braun-grau aneinanderdrücken.

PENG!, und dann ist mit einem Klacken die Lederschnalle abgesprungen von einem auf einem mächtigen Holztisch liegenden großen Buch, das seine fünf Kilo wiegen wird, das knapp 1000 Seiten hat, zusammengehalten und am Aufquellen gehindert durch Holzdeckel und die nun abgesprungene Schnalle. Das „Rudimentum novitiorum“ aus dem Jahr 1475 enthält eine Weltgeschichte inklusive Illustrationen. Zu denen gehört auch die erste jemals gedruckte Weltkarte. Jerusalem liegt in der Mitte, fast im Knick, der Rest drumherum.

Der Mann mit der Faust ist Bernd Hatscher, Brille, 47 Jahre und seit 2007 Chef der Stadtbibliothek Lübeck. Für eine Besuchergruppe klemmt er die Schnalle noch mal fest, und PENG! haut er sie wieder runter. Daher, sagt Hatscher, komme die Formulierung: ein Buch aufschlagen. Die Besuchergruppe ist entzückt. Wieder was gelernt! Damit hat Hatscher für den Tag seinen Auftrag erfüllt. Bibliotheken sollen Bildungsorte sein.

Zwei Etagen unter dem Schabausaal ist das in ganz erwartbaren Bildern so. Da ist an einem durchschnittlichen Wochentag eine typische Nutzermischung in der Lübecker Stadtbibliothek unterwegs: Eltern und kleine Kinder, Schulkinder, Jugendliche, Erwachsene, Rentner. 1000 Menschen kommen im Schnitt pro Tag durch die Glastür an der Hundestraße und drinnen noch mal durch das Drehkreuz, das den Präsenzsaal der Bibliothek begrenzt. Dort stehen meterweise Regale, dicht bestückt mit Büchern, Zeitschriften, DVDs oder CDs. Nach allem können die Besucher greifen. Sie können es auch ausleihen. Das kostet verglichen mit vielem anderen nicht viel. 20 Euro im Jahr, pro Monat einen Euro 67, das sind pro Tag fünf Cent. Für Vollverdiener. Für alle anderen kostet es weniger.

Man könnte also meinen, Bernd Hatscher verwalte eine Art Paradies. Aber das wäre falsch. Vielmehr verwaltet er die Hoffnung auf eine Art Paradies.

„Wäre es nicht schön, wenn es so einen Ort gebe?“ Das ist die Frage am Ende des neuen Imageclips des Deutschen Bibliotheksverbands. Er zeigt, untermalt von Musik, Jung und Alt, Schwarz und Weiß bei der Lektüre, mal gemeinsam, mal allein, Schulkinder staunen, Studenten lernen, Erwachsene schmökern, Wissenschaftler werten aus. So schön könnte es sein. Ist es aber nicht.

Hatscher scheucht die Besuchergruppe aus dem Schabausaal. Der viele Atem schadet den historischen Büchern. Aber das ist nicht das Hauptproblem.

Die Hauptprobleme von Deutschlands öffentlichen Bibliotheken sind struktureller Art – und strategischer. Als freiwillige Leistungen der Kommunen stehen sie notorisch zur Disposition, müssen sich aus dieser Lage heraus aber ständig an sich ändernde Zeiten anpassen. Bibliotheken sollen dem Bürger Bücher und Informationen verfügbar machen, und der Zugriff auf „allgemein zugängliche Quellen“ gehört zu dessen in der Verfassung verbrieften Grundrechten. Die Quellenzugänglichkeiten haben sich in den vergangenen Jahren sehr verändert. Vor vier Tagen erst wurde in Berlin die Digitale Deutsche Bibliothek eröffnet: Kunst, Kultur und Wissen für alle. Bücher und Informationen machen sich in Onlineportalen, Internetlexika, E-Books oder durch Digitalisierung historischer Bestände selbst öffentlich. Diesen Weg müssen auch die kleinen kommunalen Bibliotheken mitgehen. Sie müssen Computer, Internet, Scanplätze und Onlineausleihe anbieten.

Auch jenseits des technisch hochgerüsteten New-Media-Bürgers gibt es neue Aufgaben und Probleme. Da, wo die abgehängten Vertreter der bildungsfernen Schichten warten. Es gibt Bibliothekare, die berichten von Kindern, die nicht wissen, wie man ein Buch handhabt. Der ehemalige Bezirksbürgermeister von Berlin-Mitte, Joachim Zeller, sagte 2004 auf einer Tagung zur Zukunft der Bibliotheken, wenn einem die Bildung junger Leute am Herzen liege, dürfe man „eigentlich nicht mehr schlafen“. Das war kurz nach dem Pisa-Schock. Die unerwartet schlechten Leistungen von Deutschlands Schülern im internationalen Vergleich trafen 2001 auch die Bibliothekenszene. Es kam die Frage auf: Sind wir relevant?

Seither wurde umgesteuert. Bibliotheken kooperieren mit Kitas und Schulen, stellen Bücherkisten zusammen, locken mit Bibliothekenführerscheinen, Vorlesenachmittagen, Bilderbuchkino. Hier sehen sie ihre Herausforderung: Wie schlägt man ein Buch auf, warum macht Lesen Spaß? Die Maßnahmen wirken offenbar. An den Besucherzahlen in Lübeck hat sich laut Hatscher seit Jahren nichts geändert. Trotzdem ist der Spardruck geblieben. Und gespart wird an Mitarbeitern. Die Lübecker haben ihr Personal seit 2002 von 72 Stellen auf 48 reduziert. Jedes Jahr zweieinhalb Stellen weg.

Hatscher hat seine Besucher vor dieser Zahlenpräsentation um einen Tisch gruppiert. Er sagt: „Wir sind im freien Fall“, und lacht ein bisschen meckernd, wie oft nach Sätzen, denen man anhört, dass er sie nicht zum ersten Mal sagt.

Die Stadtbibliothek Lübeck ist eine von 10 361 Büchereien, die es heute in Deutschland gibt, und sie gehört mit zu den ältesten. Bereits 1619 ging sie aus einer Kirchenbibliothek hervor, was typisch ist. Bibliotheken waren lange Zeit Kirchen, Klöstern und Orden vorbehalten, in deren Skriptorien die Schriftwerke in mühseliger Handarbeit hergestellt wurden. Die Erfindung des Buchdrucks Mitte des 15. Jahrhunderts machte Bücher billiger, es entstand eine literarische Öffentlichkeit. Die Bibliothek als Bildungs- und Erziehungsort war dann eine Idee des späten 18. Jahrhunderts. In Norddeutschland, rund um Lübeck und Hamburg, ging das los. Lesegesellschaften gründeten sich. Der Pädagoge Heinrich Stephani forderte 1797 als Erster ein staatliches Bibliothekswesen als Teil eines Erziehungskonzepts, das den aufgeklärten Bürger zum Ziel hatte.

– Freien Zugang zur Bildung ermöglichen

– Breite der Information sicherstellen

– Beurteilung von Information sicherstellen

Diese drei Punkte könnten aus Stephanis Konzept stammen, sind aber von Bernd Hatscher verfasst. Sie stehen als Ziele seiner Bibliothek auf einem Papier, das die Folgen von Geldmangel beschreibt (Schließungen von sieben Stadtteilbibliotheken, Reduzierung von Veranstaltungen). Fett gedruckt auf dem Papier ist der Slogan „Bibliotheken sind Ort der Demokratisierung allen Wissens“. Das liest sich, als habe sich in den mehr als 200 Jahren Existenz an ihrem Rechtfertigungsdruck nichts geändert. Aber wie verträgt sich die permanente Infragestellung mit dem Grundrecht auf Informationsfreiheit? „Wenn du denkst, Bildung sei teuer, versuch’s mit Dummheit“, soll der langjährige Präsident der Harvard-Universität Derek Bok gesagt haben. Das ist eine Weisheit – und eine Warnung. Wozu sollen Bibliotheken Interesse am Lesen, Wissen und sich selbst wecken, wenn sie die Interessierten dann mit alten Beständen, schlechtem Service und knappen Öffnungszeiten wieder vergraulen? Man kann darüber staunen, wie gelassen die Büchereien diesen Widerspruch hinnehmen.

Nachdem die Haushälter der Hansestadt Lübeck sich gefreut hatten, dass durch die Schließung von Stadtteilbibliotheken Geld gespart werden konnte, schlugen sie der Stadtbibliothek vor, die Gebühren zu erhöhen. Auf 30 statt bisher 20 Euro. Darauf entgegnete Hatscher kühl, ein solcher Preissprung würde bei keiner Ware akzeptiert. Und eine Bibliothek ist mehr als das. Sie ist ein Bildungsanbieter. Gebührenerhöhungen würden so viele Kunden kosten, dass am Ende gar nichts gewonnen sei. Damit war das Ansinnen vorläufig abgewehrt.

Woanders kam man nicht davon. Auf der Webseite bibliothekssterben.de werden Einträge zu Schließungen gesammelt. Knapp 500 Namen stehen dort, etwa 40 aus Berlin – von Stadtteil- über Lesben- bis zu Patientenbibliotheken. Aus Berlin stammt aber auch das größte aktuelle Investitionsvorhaben. Die Zentral- und Landesbibliothek, Deutschlands größte öffentliche Bibliothek und bisher auf zwei Standorte verteilt, soll für 270 Millionen Euro auf dem Tempelhofer Feld einen Neubau bekommen. Das verkündete der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) 2011, aber dann kam ihm die Chefin der ZLB abhanden. Claudia Lux baut seit April 2012 in Katar eine Bibliothek auf. Ein Nachfolger wurde bisher nicht ernannt. Jetzt leitet ein Managementdirektor die ZLB, so dass bereits das inhaltliche Interesse der Politik am Bibliotheksbau infrage steht.

Schon die Anfänge der Berliner öffentlichen im Sinne von öffentlich-rechtlichen Bibliotheken – tatsächlich die ersten, die es überhaupt gab – waren geprägt vom politischen Kalkül. 1850 entstanden sie auf Anregung des Historikers Friedrich von Raumer. Ein Wissenschaftsverein spendete Geld für den Bücherkauf, die Stadt musste sich nur verpflichten, die Büchereien fortzuführen. Sie hatten mittwochs und samstags von 12 bis 13 Uhr und sonntags von 11 bis 12 Uhr geöffnet und sollten wahr machen, was Raumer in den USA erlebt hatte: gebildete Gespräche mit dem einfachen Volk, das die brandneuen Public Libraries gestürmt hatte. Doch der Magistrat fürchtete Unruhe und verfügte, dass vorzugsweise solche Schriften gekauft werden sollten, „welche auf Befestigung von Sitte, Glauben und Unterthanentreuen zielen“. Auch heute argwöhnt manch einer, dass die neue Bibliothek weniger Augen öffnen als blenden solle. Modernste Standards will man irgendwann präsentieren, anspruchsvollste Architektur und weltweite Vernetzung. Denn digital ist Trumpf.

Ist es das? Bei der Vorstellung des Jahresberichts des Deutschen Bibliotheksverbands vor wenigen Wochen in Hamburg ging es auch um den E-Book-Markt. Die Verbandschefin Monika Ziller klagte, dass sich in den USA drei große Verlage in den Bestandsaufbau von Bibliotheken einmischten, indem sie keine Lizenzen für den E-Book-Verleih verkauften. 169 Millionen Lesern blieben diese Publikationen verschlossen, außer sie kauften sich die selbst. Das trifft die Bibliotheken ins Mark, ist doch das Öffentlichmachen ihre originäre Aufgabe. Und haben sie als Masseneinrichtung – bundesweit gibt es elf Millionen registrierte Leser – nicht Vorrang vor Privatinteressen?

Wie heute ums E-Book gestritten wird, so wurde früher ums Buch gestritten. Die Fragen sind dieselben. Würden die Bibliotheken, die Bücher verleihen oder jedermann Einblick darein gewähren, nicht den Handel ruinieren? Wer würde überhaupt noch Bücher kaufen? Im Papierstreit einigte man sich in Deutschland 1965 auf eine sogenannte Verwertungsgesellschaft von Bund und Ländern, die den Verlagen eine Bibliothekstantieme zur Kompensation eines angenommenen Umsatzverlusts zahlt. Im Streit um das digitale Buch ist bisher keine Lösung in Sicht. Mehrere zehntausend Titel sind in Deutschland derzeit für die elektronische Ausleihe verfügbar, was jeweils zähe Verhandlungen mit den Verlagen erforderte. Der Bibliotheksverband sieht die Politik gefordert. Die hält sich bisher raus und stützt mit ihrer Steuerpolitik eher die Verlage. Auf E-Books kommen 19 Prozent Mehrwertsteuer, nicht sieben, wie aufs Buch.

Die Politik sieht sich in Bernd Hatschers Bundesland noch weiter gefordert. Es geht um die Frage, ob Schleswig-Holstein ein Bibliothekengesetz beschließen will. Nach dem Vorbild von Sachsen-Anhalt, Thüringen und Hessen. Diese Gesetze garantieren den Bibliotheken zwar keine bessere finanzielle Ausstattung, schreiben aber ihre Existenzberechtigung fest. Und das, nicht zu vergessen, in Deutschland, das von seinen höchsten Politikern so gerne als Wissensgesellschaft bezeichnet wird.

An der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg flammt im Raum 58 weißes Licht. Eine junge Frau scannt die Ergebnisse der Bürgerschaftswahlen von 1966 ein. Das Scangerät ist riesig. Die Frau klappt eine Glasscheibe hoch, entfaltet eine Wahlgrafik, legt die ein, klappt Scheibe und Gerätedeckel runter, Licht flammt auf, dann wieder Deckel hoch, Papier raus, zusammenfalten, neues Papier rein. Neben dem 80 000-Euro-Gerät steht ein Glasreiniger. Einmal am Tag wird die Scheibe geputzt. Ein Kollege scannt derweil Predigttexte aus dem Jahr 1684 ein. Die Wissenschaftler arbeiten hier an zwei großen EU-kofinanzierten Digitalisierungsprojekten, in denen historische Schriften und Hamburgensien fürs Internet aufbereitet werden. Die Nachfrage sei riesig, heißt es, schon musste die Software erweitert werden.

In Lübeck haben sie für den Altbestand, den Schatz des Hauses, weder Zeit noch Geld. 150 000 Bücher der insgesamt 1,1 Millionen Stadtbibliotheksmedien stammen aus der Zeit vom elften bis zum 18. Jahrhundert. Vieles davon hat sie im Alleinbesitz. „Wir können das doch nicht in die Trave werfen“, sagt Hatscher, und seine Besuchergruppe zuckt leicht zusammen. Natürlich nicht!

Ob in den Büchern überhaupt noch Seiten drin sind, wenn die mal einer aufschlägt? Weiß Hatscher auch nicht. Die historischen Werke werden kaum abgestaubt, geschweige denn gepflegt. Der Einzige, der sich in Vollzeit um sie kümmert, ist ein kleiner Luftreinigungsapparat. Darf man das überhaupt, so mit historischen Dokumenten umgehen? Entzieht man die so nicht der Öffentlichkeit?

An einem sonnigkalten Freitagnachmittag in Norderstedt bei Hamburg schmeißt Christina Gerisch den Projektor an. Es gibt Bilderbuchkino, eine von vielen Sonderveranstaltungen, die sie hier für Kleinkinder anbieten. Zu wechselnden Bildern liest sie die Geschichte von der Pippilothek vor. Es geht um einen Fuchs, der eine Maus in eine Bibliothek verfolgt, dort das Lesen entdeckt und darüber das dumme Jagen vergisst. Christina Gerisch liebt diese Geschichte, das ist ihr anzuhören. Während der Projektor läuft und der Fuchs sich das Jagen abgewöhnt, steht vor der Eingangstür ein junges Mädchen. Es wollte Bücher zurückbringen, dafür hat es sich auf den Weg gemacht. Aber die Schalter für Ausleihe und Rückgabe sind freitagnachmittags geschlossen.

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