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Politik: Eine Frage der Verfassung

Banker und Politiker diskutieren über die deutsche Misere

Noch nie stand eine Regierung so kurz nach der Wahl vor einem solchen Scherbenhaufen. Die Wähler sind maßlos enttäuscht, die Verbände laufen Sturm. Selbst die sonst zurückhaltenden Banken nehmen kein Blatt vor den Mund. Ihr Präsident Rolf Breuer wirft Rot-Grün „mangelnde Führung“ vor.

Deutschland im Aufbruch? Diese Frage, die sich das gesellschaftspolitische Forum des Bankenverbandes in Berlin mit Vertretern aus Wirtschaft und Politik am Donnerstag stellte, musste niemand beantworten. Klaus von Dohnanyi, ehemals Bürgermeister von Hamburg und Bundesminister, sieht Deutschland nicht im Aufbruch, sondern „in Gefahr“. Seine Analyse der Ursachen für das wirtschaftliche Desaster ist eindeutig. Die Deutschen haben die Folgen der Wiedervereinigung unterschätzt. Mehr noch: Das Thema sei tabu, wirft der SPD-Politiker den Regierenden vor, den heutigen wie den früheren. „Aus politischer Rücksichtnahme“. Dabei sind zwei Drittel der Wachstumsschwäche auf die Vereinigung zurückzuführen, zitiert Dohnanyi eine EU-Studie. Jährlich 70 Milliarden Euro Transfer in die Ost-Länder können nicht folgenlos bleiben.

Doch mit Verdrängung der Realitäten allein lässt sich der aktuelle politische Stillstand nicht erklären. Dohnanyi provoziert, stellt deshalb sogar die Verfassungsfrage. Der Föderalismus in Deutschland verliere seinen Sinn, werde zur Belastung und Lähmung, wenn er nicht als Wettbewerbsföderalismus praktiziert werde. Und genau das ist nach seiner Ansicht nicht mehr der Fall: Es herrsche in der Praxis „ein System komplex organisierter Verantwortungslosigkeit.“

Das verlangt Widerspruch. Verfassungsexperte Rupert Scholz warnt vor einer Alibi-Debatte. Nicht die Verfassung sei das Problem, sondern allenfalls die Verfassungspraxis. „Die Schwächen des Systems lassen sich doch nicht durch eine Verfassungsänderung lösen.“ Die Länder, meint der CDU-Politiker, hätten sogar zu wenig Kompetenzen. Mit der Folge, dass sie versuchten, über den Bundesrat in die Bundespolitik hineinzuregieren. Der aktuelle Streit um die Umsetzung des Hartz-Konzeptes zur Reform des Arbeitsmarktes oder zur Finanzierung der Sozialsysteme sind gute Beispiele dafür. Einige Teile der rot-grünen Projekte können im Bundesrat blockiert, zumindest aber verzögert werden. Und am Ende ist nicht mehr klar, wer für welche Änderungen und Kompromisse verantwortlich zeichnet.

Die Lösung kann also nur darin liegen, die Kompetenzen – vor allem die finanzpolitischen – zwischen Bund und Ländern klar zu ordnen. Und vielleicht auch die Wahltermine neu zu sortieren. Denn der Blick auf die nächsten Wahlen lähmt den Reformwillen zweifellos am meisten.

Zum Schluss eine gute Nachricht: Die Deutschen sind reformwillig. Das ergab eine Umfrage des Bankenverbandes. 45 Prozent von über 1000 befragten Wahlberechtigten wollen den Wettbewerb gestärkt sehen – staatliche Einmischung ist für sie kein Thema. 71 Prozent plädieren sogar für stärker leistungsbezogene Löhne und Gehälter, und drei von vier Deutschen ziehen eine zusätzliche private Altersvorsorge einer Erhöhung der gesetzlichen Rentenbeiträge vor. Beste Voraussetzungen für radikale Reformen – wenn die Reformer nur wollten.

Dieter Fockenbrock

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