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Politik: Eine Frau greift nach der Macht

Der Aufstieg der Chilenin Bachelet – eine Ausnahme

Von Michael Schmidt

Berlin - Für Chile ist das einzigartig. Michelle Bachelet ist die erste Präsidentschaftskandidatin Chiles. Die 54-Jährige galt bei der Stichwahl am Sonntag als Favoritin – und nach der Prognose eines Rundfunksenders vom Abend steuerte sie einem klaren Sieg entgegen. Der Aufstieg der Sozialistin, Agnostikerin und allein erziehenden Mutter dreier Kinder kommt in Chile einer kleinen Revolution gleich.

Er wird aber „auf absehbare Zeit wohl auch ein Einzelfall“ bleiben, wie Marianne Braig vom Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin vermutet. Und das, obwohl sich einiges getan habe in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten. So bestehen in fast allen Staaten Lateinamerikas Frauenquoten für politische Ämter, in Parlamenten und auf Kandidatenlisten der Parteien. Meist überwachen nationale Wahlkommissionen, ob der in der Regel bei 20 oder 30 Prozent liegende Frauenanteil auch eingehalten wird. Die ökonomische Entwicklung habe zudem „sehr, sehr große Veränderungen“ bewirkt. Die Konzentration auf Billigexporte für den Weltmarkt und die Ausweitung des Dienstleistungssektors haben für Frauen eine enorme Ausweitung der nationalen Arbeitsmärkte zur Folge gehabt, „das reicht von Jobs als Hausmädchen bis hin zur Bankangestellten“. Im Ergebnis wird inzwischen durchschnittlich jeder dritte Arbeitsplatz von einer Frau besetzt.

Nach wie vor hingen die Chancen von Frauen in Lateinamerika eng mit ihrer Schichtzugehörigkeit zusammen. Neue Arbeitsmöglichkeiten eröffneten sich zumeist vor allem städtischen Mittelschichten, sagt Braig. Und wenn auch die Frauenquote an Schulen und Universitäten mancherorts höher sei als in Deutschland und im Durchschnitt genauso viele Frauen wie Männer studierten, so blieben arme indianische Frauen aus dem ländlichen Bereich doch in der Regel abgekoppelt vom Zugang zu Bildung und Ausbildung.

Eine bestimmende Rolle spielen Frauen in den sozialen Bewegungen. Weil die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen in vielen Ländern ausgesprochen wichtig sei, hat sich das Ansehen der Frauen sehr verbessert. Auch an den neueren transnationalen Migrationsbewegungen sind Frauen mittlerweile in stärkerem Maße als Männer beteiligt.

Auffällig ist, dass im Unterschied zur europäischen und US-Frauenbewegung die Mutterrolle im Selbstverständnis der Lateinamerikaner einen sehr viel höheren Stellenwert einnimmt. Sie würde nicht so weit gehen wie jene, die von einem religiös inspirierten und der weit verbreiteten Marienverehrung entsprungenen „informellen Matriarchat“ sprechen, erläutert die Expertin Braig. Aber in Staaten, in denen im Durchschnitt jede dritte Mutter allein erziehend sei, stelle Mutterschaft „ein nicht zu unterschätzendes soziales Kapital dar, das Prestige und Anerkennung verspricht“.

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