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Politik: „Eine Kerze anzünden reicht nicht“

Der Präsident des EU-Parlaments Pat Cox über Europas Hoffnung auf den US-Aufschwung und deutsche Steuern

Die USWirtschaft ist im dritten Quartal um 7,2 Prozent gewachsen. Wann gibt es in der Europäischen Union ähnliche Erfolgsmeldungen?

Auch wenn die aktuellen Zahlen aus den USA sich so wahrscheinlich nicht wiederholen werden, so gibt es doch einen Trend, der ihnen zugrunde liegt: Seit den Siebzigerjahren erreichen wir in Europa beim realen Wachstum nur 70 Prozent dessen, was in den USA üblich ist. Natürlich hoffe ich, dass es eine deutliche wirtschaftliche Belebung in den USA gibt und dass wir Europäer davon auch profitieren werden. Aber es reicht nicht, dass wir eine Kerze in der Kirche anzünden und auf die USA hoffen. Wir müssen selber mehr tun. Nur ein Beispiel: In den USA werden, gemessen an der Bevölkerung, vier Mal so viele Patente entwickelt wie in der EU.

Aber auch innerhalb der EU gibt es beim Wachstum deutliche Unterschiede.

Es gibt heute zwei Europas: Auf der einen Seite gibt es die skandinavischen Staaten, Großbritannien, Irland und teilweise auch Spanien, Portugal und Luxemburg. Einige von ihnen werden von Mitte-links-Regierungen regiert, andere von Mitte-rechts-Regierungen. Aber sie haben eines gemeinsam: Sie haben beträchtliche Strukturreformen mit Blick auf ihre Arbeitsmärkte und Steuerpolitik auf den Weg gebracht. Auf der anderen Seite stehen Deutschland, Frankreich und Italien. Sie brauchen länger, um den Reformprozess auch substanziell umzusetzen. Das Europa, das den Schritt zu Reformen unternommen hat, entwickelt sich überdurchschnittlich. Aus dieser Tatsache können die Europäer etwas voneinander lernen – nämlich, dass sich Reformen auf lange Sicht auszahlen.

Ist das Reformtempo in Deutschland hoch genug?

Die OECD, die Europäische Zentralbank, die EU-Kommission – sie alle gehen in ihren Voraussagen davon aus, dass in Europa, also auch in Deutschland, die Talsohle erreicht ist. Europa hat ein gemeinsames Interesse an einem Deutschland, das Reformen umsetzt. Ich gehöre zu denen, die sagen: Die Steuerlast in Deutschland ist zu hoch. Die Unternehmensteuern und die Besteuerung der einzelnen Arbeitnehmer sind die schlimmsten in Europa.

Werden die osteuropäischen Beitrittsstaaten für mehr Dynamik in die EU sorgen?

Wir, die EU mit 15 Mitgliedern, haben sehr radikale Forderungen an die neuen EU-Mitglieder gestellt, damit sie beitrittsfähig wurden – sehr viel radikaler als das, was wir uns selber abverlangen. Die osteuropäischen Beitrittsstaaten haben einen doppelten Umbau hinter sich. Ich hoffe, dass diese Staaten ihren Appetit auf Reformen auch in die EU mitbringen.

Eigentlich müssten all diese Fragen auch bei der Europawahl im kommenden Juni ein Thema sein. Danach sieht es aber nicht aus.

Ich habe Verständnis dafür, dass die Europawahl teilweise zu einem Schönheitswettbewerb zwischen verschiedenen deutschen Politikern wird. Aber bei der Europawahl sollte es auch um wirklich europäische Fragen gehen. Zum Beispiel darum: Wo ist die Grenze zwischen Industriepolitik und Nachhaltigkeit?

Ist es legitim, im Europawahlkampf 2004 einen EU-Beitritt der Türkei zum Thema zu machen?

In der Politik sollte es keine Tabus geben. Wir sollten gewillt sein, jedes Thema zu diskutieren, das in der Welt ist. Aber ich warne davor, im kommenden Jahr schon ein endgültiges Urteil über die Türkei zu fällen. Die Türkei-Frage löst zahlreiche unterschiedliche Gefühle aus – nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten EU und damit auch im Europaparlament. Ich bitte nur um eines: Wir haben mit der gegenwärtigen türkischen Regierung eine politische Vereinbarung getroffen, wonach die EU am Ende des Jahres 2004 eine rationale und ausgewogene Einschätzung über die Türkei abgibt. Lasst uns also über die Türkei debattieren – aber rational und ausgewogen.

Bei den gegenwärtigen Verhandlungen über die neue EU-Verfassung beanspruchen Polen und Spanien mehr Gewicht, als ihnen nach der Bevölkerungszahl zustehen würde. Eine gerechtfertigte Forderung?

Wenn wir die Gewichtsverhältnisse so gestalten würden, wie das von Spanien und Polen gewünscht wird, dann wäre es künftig leichter, eine Sperrminorität im Ministerrat aufzubauen. Soll das die Geschäftsgrundlage für das künftige Europa sein? Das Europaparlament glaubt das nicht. Im Gegenteil: Wir wollen in Zukunft Blockaden vermeiden – gerade in einer EU, die immer komplexer wird.

Das Gespräch führten Christoph von Marschall und Albrecht Meier.

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