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Politik: Eine Liebe von Auschwitz

Uwe von Seltmann, Enkel eines SS-Manns, lernt in Polen Gabriela kennen. Ihr Großvater wurde im KZ ermordet. Sie werden ein Paar – und muten ihren Familien einiges zu.

Schließlich antwortet Uwe von Seltmann. Weil ausweichen nicht mehr geht. Er sagt: „Mein Großvater war ein SS-Mann.“

Seltmann ist ziemlich unglücklich, dass sich das Gespräch mit den jungen Polen, die am Nachbartisch sitzen, so entwickelt hat. Seltmann, 40, macht in diesem Juli 2006 in Krakau nur einen Zwischenstopp auf einer Reise von der Ukraine zurück nach Deutschland. Er ist in das Café Singer im ehemaligen jüdischen Viertel Kazimierz gegangen und ins Gespräch mit den Polen am Nachbartisch gekommen. Seltmann war drei Jahre zuvor oft in diesem Café. Er hat an dessen Tischen sein Buch über den Großvater geschrieben, der in Krakau lebte. Was der Großvater hier gemacht habe, wollen daraufhin die Polen wissen. Und schließlich antwortet Seltmann.

Es wird ganz still am Tisch. „Das war’s dann“, denkt sich Seltmann. Aber da sagt Gabriela, eine der Frauen aus der polnischen Runde: „Oh, and my grandfather was killed in Auschwitz.“ Und mein Großvater wurde in Auschwitz ermordet.

Gabriela merkt, dass ihre Worte Seltmann verlegen machen. Das tut ihr leid. Ihr gefällt der Deutsche, der so sympathisch offen ist. Die Situation macht sie wütend. Weil sie und er nun schon die dritte Generation sind und noch immer die Konsequenzen jener Zeit spüren.

Die Stille dauert nicht lange, das Gespräch sucht sich den Weg zurück an ihre Tische. Immer weiter reden sie, bis in die frühen Morgenstunden. Bis sie allein im Café Singer zurückbleiben: der Mörder-Enkel und die Opfer-Enkelin.

Ihr sei plötzlich klar geworden, was für eine unfassbare Vergangenheit sie beide hätten, sagt Gabriela heute. Sie habe an jenem Abend eine vage Vorahnung bekommen, dass auch sie sich der Vergangenheit ihrer Familie stellen müsse. Das war bis dahin etwas, was ihre Mutter und sie erfolgreich vermieden hatten.

Die Polin und der Deutsche tauschen zum Abschied ihre E-Mail-Adressen aus. „Would you send me your book?“ Würdest du mir dein Buch schicken?, schreibt Gabriela nach Deutschland, das Buch über den Großvater. Aber Uwe von Seltmann schickt es ihr nicht, er bringt es persönlich nach Krakau. Und überredet sie, mit ihm in den Urlaub nach Kroatien zu fahren. Nach wenigen Tagen macht er ihr einen Heiratsantrag. Im Juli 2007, ein Jahr nach dem Gespräch im Café Singer, heiraten sie.

Uwe von Seltmann sieht in seiner Begegnung mit Gabriela keinen Zufall. An Zufälle glaubt er nicht. Wie auch – bei der Geschichte? Sie wohnen heute in Kazimierz, wo sie sich kennengelernt haben. Auch das kein Zufall. Gabriela ist sicher, dass es so kommen sollte. Dass hier vielleicht etwas ein gutes Ende gefunden hat.

Bevor sie ihre Hochzeitspläne in ihren Familien bekannt machen, fragen sie sich, wie wohl die Reaktionen sein werden. Es ist bestimmt nicht einfach, den Enkel eines Mörders in die Familie aufzunehmen, denkt sich Seltmann. Doch als sein Vater und Gabrielas Mutter sich zum ersten Mal treffen, umarmen sie sich und weinen. „Ich hatte den Eindruck, dass da zwei Kriegskinder mit ihrem Verlust, ihrer Angst und ihrem Schmerz aufeinandertrafen“, erinnert sich Gabriela. Sie sagt: „In der ersten Generation gibt es Täter und Opfer, in den weiteren – nur noch Opfer.“

Uwe von Seltmann empfindet es als ein Stück Gerechtigkeit, auch das Leben von dem Großvater seiner Ehefrau zu recherchieren. Er stellt Fragen. Was, warum, wo, wann. „Ein Deutscher heiratet in eine Familie ein und löst die Lawine aus“ – damals war es Gabi oft zu viel. „Leave my family in peace“, lass meine Familie in Ruhe, sagte sie ihm dann. Sie spricht englisch. Seit dem Krieg lernt niemand in der Familie mehr Deutsch. Seltmann ist überrascht, als er feststellt, dass in der Familie eines Opfers der gleiche Mechanismus herrscht wie in seiner eigenen Familie. „Schweigen und verdrängen.“ Dabei mussten die doch gar keine Angst haben, zu erfahren, was der Opa gemacht hat. Anders als er.

Seltmanns Großvaterrecherche ging im November 1999 los. Er sollte als Journalist aus Krakau eine Reportage über die Wiedergeburt des jüdischen Lebens schreiben. In der Synagoge Remuh sah er einen alten Juden, der Kaddisch sprach. Seltmann stellte sich vor und wollte ihn befragen, aber stattdessen befragte der alte Jude ihn. „Er wollte wissen, warum ich mich ausgerechnet für das Judentum interessierte. Ich sagte, dass ich Theologie und Judaistik studierte und das Thema einfach interessant fände, aber er bohrte weiter.“ Wann sein Großvater geboren sei? 1917. Er war Nazi, sagte da der Alte. „Du fühlst dich schuldig wegen dem, was er getan hat, was es auch immer war.“ Seltmann, der verblüfft und auch ein bisschen empört zugehört hatte, wurde plötzlich klar, dass der alte Jude recht hatte. Er erinnerte sich auf einmal an das Ende der 70er Jahre, als im deutschen Fernsehen die US-Serie „Holocaust“ lief. Wie die ganze Familie beim Zuschauen weinte und wie er darüber schon damals eine Wut auf die Täter empfand. Und in diesem Moment in der Synagoge, da spürte er einen regelrechten Hass auf seinen Großvater, den er nicht kannte, über den er fast nichts wusste. Hass, weil er, der Enkel, nichts Böses gemacht hatte und sich trotzdem schuldig fühlte. Und weil er Angst hatte, die Wahrheit zu erfahren.

Lothar von Seltmann war wie ein Phantom, er war tabu in der Familie. „Wenn ich nach ihm fragte, hörte ich immer: ,Ich weiß nicht‘.“ Der Vater von Uwe Seltmann, der auch Lothar hieß, wuchs in einer Pflegefamilie im südwestfälischen Siegerland auf. Er war zwei Jahre alt, als er Vollwaise wurde. Sein Vater sei kurz vor der Mutter Anfang 1945 gestorben – von Polacken bei Breslau erschossen, wie im Haus der Pflegeeltern erzählt wurde.

Etwa 30 Jahre später liest der kleine Uwe im Pass seines Vaters „Geburtsort: Krakau“. „Warum bist du in Polen geboren?“, fragt er den Vater. „Meine Eltern lebten dort“, antwortet Lothar. Der Großvater, geboren in Österreich, war bei der Waffen-SS und in Krakau stationiert gewesen. Mehr wusste Uwes Vater nicht. Dessen zwei Schwestern wurden in Lublin geboren, wo die Eltern zwischenzeitlich auch wohnten.

„Erst Jahre später fiel mir auf, dass Krakau unweit von Auschwitz liegt, und Lublin unweit vom KZ Majdanek“, sagt Uwe von Seltmann heute.

1989 fährt er mit seinem Vater nach Krakau. Sie stehen in Straße, in der sein Vater als Kind mit seinen Eltern wohnte. Sie schauen und schweigen. Der Vater macht ein paar Fotos.

Es dauert noch zehn Jahre, bis zu dem Gespräch mit dem alten Juden, bis Uwe von Seltmann beschließt, sich seine Fragen selbst zu beantworten. Er sucht nach Hinweisen in Archiven, alten Büchern und Bildbänden. Fährt nach Krakau, Wien, in die Ukraine. Er erfährt, dass sein Großvater schon als Teenager, noch in Österreich, der Hitlerjugend und der NSDAP beitrat. Dass er in Deutschland ein Studium anfing, aber nicht beendete, denn seine ganze Zeit widmete er dem Nationalsozialismus. München, Thüringen, nach dem Anschluss zurück nach Österreich. 1938 wurde Lothar von Seltmann nach Wolyn geschickt, später in das Generalgouvernement. Er sollte „nach dem deutschen Blut fahnden” und die deutschen Kolonisatoren unterstützen.

Von einer ehemaligen Schulkameradin des Großvaters erhält Seltmann das erste Foto von Lothar. Schlank, dunkelhaarig, mit sanften Gesichtszügen. „Ein sympathischer Mann, trotz der SS-Uniform“, denkt sich der Enkel. Nein, Lothar von Seltmann konnte kein schlechter Mann gewesen sein. Zwar ein fanatischer Nazi und Antisemit, „aber es gab ja in der Zeit damals größere Sünden, als Propagandablätter zu schreiben“, denkt der Enkel. Blut jedenfalls klebte nicht an des Opas Händen. Ein Brief aus Wien macht dieses Bild kaputt. Ein Historiker recherchiert über Odilo Globocnik und bittet um Informationen über Lothar von Seltmann. „Globocnik war für die ,Aktion Reinhardt’ zuständig: Vernichtung der Juden in Generalgouvernement. Belzec, Sobibor, Majdanek, Treblinka. Und mein Großvater war sein Mitarbeiter?“ Es wird schlimmer. Die Dokumente beweisen, dass sein Großvater im April 1943 in Warschau eingesetzt wurde, in einem Bataillon, das den Aufstand im Ghetto niederschlug.

„In einem Brief aus Warschau im April 1943 schrieb mein Großvater ganz poetisch über den Frühling, der gerade ausbrach. Aber er leiste einen schweren Dienst, der ihm es leider nicht erlaube, sich daran zu beteiligen. Mir wurde erst dann klar, was für einen Dienst er meinte.“ Der Brief war einer von vielen, die Lothar von Seltmann an seine Ehefrau schrieb. Alle herzlich und liebevoll. Kein Wort über Tod und Terror. Die Briefe lagen bei einer Tante. Der Enkel bekam sie, als er die Familie über seine Recherchen informierte. Viele Verwandte rieten ab, verboten ihm, in der Vergangenheit zu wühlen. Ein Teil der Familie brach den Kontakt ab. Uwe von Seltmann ist jetzt ein „Nestbeschmutzer“.

Warum es ausgerechnet ihm zufällt, die Familiengeschichte aufzuklären, ist Uwe von Seltmann ein bisschen rätselhaft geblieben. „Ich denke, in der zweiten Generation ist es noch zu früh, darüber zu reden“, sagt er. „Es ist noch zu persönlich.“ Die Generation danach, die habe Abstand. Aber wieso er? „Angeblich war ich in meiner Generation dem Großvater am ähnlichsten. So erzählten zumindest die älteren Damen, die von meinem Großvater immer noch schwärmen“, sagt er und lacht. „Vielleicht habe ich tatsächlich was von ihm in mir gefunden: Er war Journalist, schrieb, reiste viel.“ Immer wieder fragt sich Uwe von Seltmann auch, was er damals gemacht hätte. „Könnte ich auch zum Täter werden?“

Genauso, wie Lothar von Seltmann, der SS-Mann, von seiner Familie als Täter ausgeblendet wurde, hielt es auf der polnischen Seite der Geschichte auch die Familie von Gabriela.

Alles, was die Enkelin von Michal Pazdanowski, ihrem Großvater, weiß, als sie 2006 auf den Enkel eines SS-Manns trifft, ist dies: Er wurde 1903 geboren, war Schulleiter in Ostpolen, der heutigen Ukraine, wurde 1942 von den Deutschen festgenommen und in Auschwitz ermordet, irgendwann im Frühling 1944.

Wann immer Gabriela oder ihr Bruder in Kinderjahren die Mutter nach Details fragten, sahen sie Tränen in deren Augen. Irgendwann hörten sie auf zu fragen. Auch die Großmutter sagte bis zu ihrem Tod kein Wort. Auch in Auschwitz war Gabriela nie. Dabei sind es von Krakau aus nur 80 Kilometer bis zur Gedenkstätte. Schulklassen machen Ausflüge dorthin. Mit stillem Einverständnis ihrer Mutter findet Gabriela immer einen Grund, nicht mitzufahren. Auschwitz ist ein Name, der einen Magenkrampf in ihrer Familie auslöst.

Erst das Gespräch mit Seltmann im Café Singer lässt in Gabriela das hervorbrechen, was bei dem 1999 durch das Treffen mit dem alten Juden in der Krakauer Synagoge hervorgebrochen war: das Wissenwollen. Und wie bei der Suche nach Lothar von Seltmann stellt sich auch jetzt heraus, dass es Spuren gibt. Sogar direkt in ihrer Familie. Gabrielas Bruder hatte heimlich ein kleines Archiv angelegt. Mit Fotos, Zeitungsausschnitten, Sportberichten. „Mein Opa spielte Hockey?“ Ein Zeugnis der Agrarhochschule in der Schweiz, wo der Großvater studierte. Karten aus dem Lager. „Liebe Mutter, ich lebe u. bin gesund.(…) Schreiben Sie mir von Euch. Ich bin unruhig, was mit Euch ist“, schrieb Michal Pazdanowski im September 1943 aus dem KZ Majdanek bei Lublin.

Gabriela und Uwe von Seltmann sind in den Ort gefahren, in dem Michal Pazdanowski früher Schulleiter war, und sie haben dort sogar eine Frau getroffen, die sich noch an ihn erinnerte. „Sie erzählte mir, dass mein Opa seine Frau küsste, bevor er zur Arbeit ging und als er zurückkam.“ Zum ersten Mal sieht Gabriele ihren Großvater nicht nur als Opfer, sondern als Menschen. „Mein Großvater hatte auch ein tolles Leben, es gab nicht nur Majdanek, Auschwitz, Krieg und Leiden. Das ist eine große Erleichterung.“

Gabriela erzählt ihrer Mutter und ihrer Tante, was sie über deren Vater herausgefunden hat. Die Tante, Jahrgang 1938, weiß noch, wie die Deutschen den Großvater mitten in der Nacht aus dem Haus führten. „Jahrelang habe ich gebetet, damit Gott mich nimmt und Papa zurückbringt“, erzählt sie. Am Ende sagt sie dem Enkel des SS-Manns Lothar von Seltmann: „Ausgerechnet ein Deutscher bringt mir meinen Vater zurück. Danke.“

2009, mit 39 Jahren, fährt Gabi dann zum ersten Mal nach Auschwitz. Im Gedenken an ihren Großvater. In ihrer Erinnerung weint sie dort vier Tage lang. „Alle Tränen, die sich meine Oma und Mutter nicht erlaubt haben“, sagt sie. Sie kehrt mit dem Gefühl zurück, ihr Opa habe seinen Frieden längst gefunden. Aber auch mit dem Gedanken an das Schreckliche, das Menschen Menschen antun. „Auschwitz ist eine Lehre für die Menschen. Und solange es noch Kriege gibt, bedeutet es, dass wir nichts gelernt haben. Und deswegen dürfen wir die Vergangenheit nicht von uns abgrenzen.“

Uwe und Gabriela von Seltmann haben die Schicksale ihrer Großväter und ihre gemeinsame Recherche in einem Buch beschrieben. „Todleben. Eine deutsch-polnische Suche nach der Vergangenheit“. Das Buch ist im vergangenen Jahr zugleich in deutscher und in polnischer Sprache erschienen. Als Motto wählten die beiden Autoren dafür ein Wort von Hermann Hesse. „Es kehrt alles wieder, was nicht bis zu Ende gelitten und gelöst ist.“ Dass das wahr ist, davon sind sie überzeugt. „Das Alte Testament sagt, bis in die vierte Generation sind die Folgen unserer Handlungen zu spüren“, sagt Uwe von Seltmann. Und seine Frau ergänzt: „Ich möchte, dass jeder daran denkt, dass die Konsequenzen von dem, was er macht, später noch seine Kinder und Enkel werden tragen müssen.“ Sie sagt, dass sei nicht immer einfach.

Agnieszka Hreczuk[Krakau]

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