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Politik: Eine schmale, eisige Piste nach Georgien ist die einzige Chance, sich zu retten - denn auf Zivilisten nimmt Moskau keine Rücksicht

Voller Sorge inspiziert Gjuli Imedaschwili ihre Vorratskammer: Das Mehl reicht nur noch für eine Woche, die weißen Bohnen sind bereits alle. Auch die Kartoffelkiste ist bedenklich leer.

Voller Sorge inspiziert Gjuli Imedaschwili ihre Vorratskammer: Das Mehl reicht nur noch für eine Woche, die weißen Bohnen sind bereits alle. Auch die Kartoffelkiste ist bedenklich leer. Soll sie in den Erbseneimer greifen oder lieber von den Graupen nehmen? Ein Dilemma, vor dem Gjuli jeden Abend steht. Nicht nur ihr Mann, die beiden Töchter und die fast taube Großmutter wollen halbwegs satt werden. Seit zwei Wochen sitzen am Küchentisch der Familie vier Dauergäste - Kriegsflüchtlinge aus Tschetschenien.

238 000 Menschen hat Russlands zweiter Kaukasuskrieg seit Anfang Oktober bereits von Haus und Hof vertrieben. Die meisten hausen in Lagern in der benachbarten russischen Teilrepublik Inguschetien. Mehrere Tausend rüsten sich zudem zur Flucht in die von den russischen Regierungstruppen kontrollierten "befreiten" Gebiete im Norden Tschetscheniens. Zu Wochenbeginn hatte Moskau den letzten 40 000 in Grosny verbliebenen Einwohnern ein Ultimatum gestellt: Entweder sie verlassen die tschetschenische Hauptstadt bis Sonnabend oder aber sie werden als "Terroristen" betrachtet und damit zum Abschuss freigegeben. Wer irgend kann, will jedoch nicht nur dem Krieg entkommen, sondern weg aus der Russischen Föderation. Der einzige Weg dorthin führt auf die andere Seite der Berge - nach Georgien. In den Grenzdörfern am Alasani-Fluss wohnen Stammesverwandte der Tschetschenen - das 20 000-Seelen-Volk der Kistinen, zu dem auch Gjuli gehört.

In Gjulis Dorf Diusi lebten bis Anfang Oktober 7000 Einwohner. Seit Kriegsbeginn sind weitere 3500 dazu gekommen. Wenige haben es so gut getroffen wie Bella und ihre drei Kinder, die mit Gjuli um sieben Ecken verschwägert sind. Das Gros der Flüchtlinge kampiert in Ställen oder Schulen und hat nicht einmal jeden Tag zu essen. "Unser Kreis ist der ärmste in ganz Georgien", sagt Gjuli. "Wir wissen nicht einmal, wie wir selbst über den Winter kommen sollen." Trotzdem schlägt sie nach dem Abendessen das übrig gebliebene Brot in ein Leinentuch und bringt es in den Kindergarten, wo sich 19 Flüchtlingsfamilien drängen.

Frauen und Kinder liegen, in Decken gewickelt und eng aneinander geschmiegt, apathisch auf dem Fußboden. Einzige Wärmequelle ist ihr eigener Atem. Trotzdem scheint es drinnen kälter als draußen. Im Hof schwelt immerhin ein Reisigfeuer, an dem sich die Flüchtlinge abwechselnd wärmen. In der Glut steht eine rußgeschwärzte Metallkanne mit Thymianabsud - kümmerlicher Ersatz für Tee. Die Kanne und eine Wattejacke gehören zu dem Wenigen, was Rosa nach den Bombenangriffen und der Flucht über die Berge noch geblieben ist. Ihren gesamten Schmuck hat sie dafür hergeben müssen. "Es war die Hölle", sagt Rosa und dabei zittern ihre Lippen: "Ich weiß nicht, was schlimmer war: 30 Bombennächte in Grosny oder der Weg des Lebens". So nennen die Tschetschenen seit Kriegsbeginn die einzige Straße, die ins rettende Georgien führt. Wer die Passage riskiert, steht mit anderthalb Beinen im Grab.

"Glauben Sie an Gott, Genosse Major? Dann beten Sie", sagt Feldwebel Dató, ohne die Antwort seines Fahrgastes abzuwarten. Zurab Melekischwili heißt der, ist 38 Jahre alt und Major der georgischen Armee. Er ist für die nächsten zwei Monate abkommandiert nach Schatili, dem letzten georgischen Dorf vor der tschetschenischen Grenze. Obwohl die Strecke nur 150 Kilometer lang ist, dauert die Fahrt im Jeep im Winter mindestens sechs Stunden: Die Serpentinen führen in Höhen von bis zu 2600 Metern.

Für den Major beginnt der Schrecken in Zchinwali, der Hauptstadt der zu Georgien gehörenden Autonomie Südossetien. Die tschetschenischen Flüchtlinge sehen das allerdings genau umgekehrt: Wer es bis Zchinwali schafft, ist dem Tod von der Schippe gesprungen. "Die Tschetschenen wollten mit uns zusammen hier eine richtige Straße bauen. Doch dann fingen die Russen mit ihrem Scheißkrieg an", sagt der Major und starrt auf die weiße Hölle vor der Frontscheibe.

Gleich hinter dem Stausee geht es steil bergauf. Rechts hängen Felsvorsprünge über dem Weg, links gähnt der Abgrund. Verharschtes Eis bedeckt die Piste, die so schmal ist, dass der Jeep entgegen kommenden Fahrzeugen nicht überall ausweichen kann. - "Was ist denn das da?" fragt der Major und zeigt auf etwas Dunkelgrünes gut zwanzig Meter tiefer. "Ein Jeep", sagt Dató. "Die sind am Sonntag abgestürzt." "Alle tot?" erkundigt sich der Major mit belegter Stimme. "Ara, ara - I wo" - sagt Dató. "Das waren doch Tschetschenen. Die haben einen harten Schädel."

Datós Schädel ist weniger hart und daher bekreuzigt er sich nach jedem Ausweichmanöver. Immer wieder rutschen talwärts im Schneckentempo Fahrzeuge vorbei. Vollgepfropft mit menschlichem Strandgut des Krieges. Aus den Gucklöchern, die sie in die vereisten Scheiben gehaucht haben, schaut die nackte Angst, ansteckend und gefährlich.

Der Major tastet die Gegend mit den Augen nach weiteren Wracks ab und knickt bei jedem Fund einen Finger ein. Dató starrt konzentriert geradeaus und erzählt, um sich Mut zu machen, was ihm gerade einfällt. Irgendwann ist er beim Französisch-Unterricht angelangt: "La neige est blanc. Oder heißt es blanche?" Völlig egal, denn dieser Schnee ist nicht weiß.

Mit zitternden Fingern tastet sich die kraftlose rote Wintersonne über die Hochfläche, die im kältesten Eisblau schimmert. Dort, wo Schatten ist, glitzert der Schnee dagegen dunkelviolett. Der Pass ist erreicht - der "Bärenrücken", auf dem ein schneidender Wind geht. Trotzdem macht Dató Pause: Hier ist die Straße so breit, dass zwei Jeeps aneinander vorbeikommen. "Huh", sagt Dató. "Wir sind im Reich der Schneekönigin. Guckt mal, da kommt sie." "Mein Gott", sagt der Major und geht der Frau instinktiv ein paar Schritte entgegen.

Der lange, dunkelblau eingefärbte Pelz hat Spuren einstiger Eleganz bewahrt. Doch Augenbrauen und Wimpern der Frau und ihres halbwüchsigen Sohnes sind mit Reif überzogen. Unendlich langsam lösen sich ihre starren Hände von den schweren Reisetaschen, als der Major eine Thermosflasche mit Tee aus dem Jeep holt. Ehe er es verhindern kann, küsst die Frau seine Hand. "Danke", sagt sie. "für den Tee und dafür, dass Ihre Leute uns durchgelassen haben."

Fünf Tage sind beide schon unterwegs. Zu Fuß. "Steigen Sie ein. Wir fahren zwar erst nach Schatili, wo Sie hergekommen sind, aber dann muss mein Fahrer zurück nach Zchinwali. Er nimmt Sie mit", sagt der Major. "Ogottogott", jammert Dató und lehnt jede Verantwortung für das Übergewicht ab: "Das Schlimmste haben wir noch vor uns."

Denn nun geht es nicht nur abwärts, sondern auf die Nordseite, wo die Sonne im Winter nicht hinkommt. Blankes Eis macht die Piste, die auf vier Kilometer einen Höhenunterschied von fast 700 Metern überwindet, zur Rodelbahn.

Schatili. Dató klatscht in die Hände: "Ende der Vorstellung, Applaus, Applaus." Schatili ist eine Geisterstadt. Ihre Bewohner wurden in den Achtzigern umgesiedelt, weil die mittelalterlichen Bauten als Freiluftmuseum restauriert werden sollen. Nur knapp 500 Menschen blieben und bauten sich unterhalb der Altstadt neue Häuser. Wärme und die karge Kost aus eigenem Anbau teilen sie mit 1500 Flüchtlingen. Die meisten stehen noch unter Schock und reagieren verstört auf jeden, der nicht wie ein Kaukasier aussieht. "Russkije" - die Russen - schreit ein kleines Mädchen und versteckt ihren Kopf in den Mantelschößen ihrer Mutter Luisa, als in der Ferne Flugzeuglärm zu hören ist.

Jeden Tag gehen beide zu den Männern an den Lagerfeuern am Ortsausgang von Schatili, wo die Jeeptaxen mit den Schneeketten auf Passagiere warten. Doch bislang endeten alle Preisverhandlungen weit oberhalb von Luisas Barschaft. Für die Höllenfahrt hinunter nach Zchinwali sind immer noch mindestens 200 Dollar zu berappen. Für die meisten Flüchtlinge ein Vermögen. Für viele endet der "Weg des Lebens" daher in Schatili.

Dabei warten mindestens vierhundert weitere Flüchtlinge direkt an der Grenze. Mehrere Tausend haben vor Hunger und Kälte kapituliert und sind wieder zurück: Passieren dürfen nur Frauen, Kinder und Alte. Männer zwischen 16 und 65 müssen die georgischen Grenzer zurück schicken. "Heute früh war ein Junge hier, der aussah wie höchstens vierzehn, laut Pass aber schon siebzehn war", erzählt ein Unteroffizier. "Das zerreißt einem zwar das Herz, aber Befehl ist Befehl."

In Itum-Kale, dem ersten größeren tschetschenischen Dorf hinter der Grenze, herrscht Hungersnot. Hier stauen sich die Abgewiesenen, von denen viele es wieder und wieder versuchen. Malika Bugajewa und ihr 62-jähriger Ehemann Abdullah waren schon dreimal "oben". Und dreimal wurde Abdullah zurückgeschickt. "Jetzt habe ich keine Kraft mehr", sagt Malika und stochert im Herdfeuer: "Wenn wir schon sterben müssen, dann lieber zusammen."

Nino Dadaschidse

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