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Von den Taliban sind gerade die früheren Ortskräfte des Westens besonders bedroht.

© Maurizio Gambarini/dpa

20.000 Afghanen könnten insgesamt kommen: „Das Ortskräfteverfahren braucht ganz andere Maßstäbe“

Die Bundesregierung will die Aufnahme Schutzbedürftiger aus Afghanistan beschleunigen. Hilfsorganisationen kritisieren die Zahl der Aufnahmezusagen.

Wie die Afghanen zu ihren neuen Herrschern stehen, ließ sich zuletzt vor Passämtern beobachten. Hunderte Menschen versammelten sich prompt in Kabul, standen bei eisiger Kälte in langen Schlangen vor den Toren des Amtes, teils schon in der Nacht, nachdem die Taliban dessen baldige Öffnung ankündigten.

Wer keinen Pass hat, darf das Land nicht verlassen – und das wollen viele. Die Bilder aus Kabul gleichen jenen aus anderen Städten des Landes, in denen Pässe seit der Machtübernahme der Taliban Mitte August überhaupt nur an wenigen Tagen bearbeitet wurden.

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Die Entwicklungen lenken den Blick auf jene, die das Land nicht nur dringend verlassen wollen, sondern auch müssen: Menschenrechtsverteidiger und ihre Familien, Ortskräfte, die für deutsche Ministerien, für die Bundeswehr, in Entwicklungsorganisationen oder in politischen Stiftungen arbeiteten. Übersetzer, Fahrer, Sicherheitskräfte, die für die Deutschen Verbindungen zur Bevölkerung schufen.

Von den Taliban aber sind die vermeintlichen Kollaborateure des Westens besonders bedroht. Und Tausende von ihnen, die auch die Bundesregierung aus dem Land holen will, befinden sich noch immer in Afghanistan.

„Ich werde erst dann wieder halbwegs ruhig schlafen können in dieser Frage, wenn ich weiß, die sind hier“, sagte der neue Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags Michael Roth (SPD), zur Lage früherer Ortskräfte und andere gefährdete Menschen vor wenigen Tagen.

20.000 Aufnahmezusagen, 7000 Einreisen

Zahlen des Bundesinnenministeriums (BMI) und des Verteidigungsministeriums (BMVg) belegen, dass der Weg dahin noch weit ist. Die Bundesregierung hat seit dem 15. Mai 2021 mehr als 20.000 Aufnahmezusagen für aktive und ehemalige Ortskräfte und deren Familienangehörige in Afghanistan erteilt. Davon sind nach aktuellem Kenntnisstand allerdings erst 7000 Menschen nach Deutschland eingereist, wie das BMI auf Anfrage mitteilte.

„Die Regelung gilt für alle aktiven und ehemaligen Ortskräfte rückwirkend bis zum 01.01.2013“, schreibt das BMI. Hierfür wird ein Arbeitsverhältnis für ein deutsches Ressort vorausgesetzt. Als Ortskraft gelte aber auch, wer mittelbar für das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und das Auswärtige Amt in Entwicklungs- und Kulturorganisationen gearbeitet habe.

Fast 20 Jahre waren internationale Truppen in Afghanistan, so auch die Bundeswehr, hier im Jahr 2011 in der Provinz Kundus.
Fast 20 Jahre waren internationale Truppen in Afghanistan, so auch die Bundeswehr, hier im Jahr 2011 in der Provinz Kundus.

© picture alliance / dpa

Besonders gefährdet sind jene, die für ausländische Truppen gearbeitet haben. Die Bundeswehr zog bereits im Juni aus Afghanistan ab. Das BMVg geht davon aus, dass sich – Stand 20. Dezember – noch 490 frühere Ortskräfte der Bundeswehr mit rund 2000 Familienangehörigen in Afghanistan befinden, wie es auf Anfrage mitteilt.

Um als Ortskraft für die Ausreise anerkannt zu werden, müsse ein unmittelbares Beschäftigungsverhältnis mit der Bundeswehr ab 2013 bestanden haben. „Die Erteilung einer Aufnahmezusage muss nach Bestätigung einer Gefährdung durch den Ressortbeauftragten des BMVg über das Auswärtige Amt beim Bundesinnenministerium beantragt werden.“

Deutsche Auslandsvertretungen sollen seit dem Sommer mehr als 5600 Visa für Ortskräfte sowie besonders gefährdete Menschen aus Afghanistan ausgestellt haben, berichtete die Funke-Mediengruppe am Mittwoch unter Berufung auf das Auswärtige Amt. 3700 Visa wurden demnach in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad ausgegeben. Die Botschaften in Islamabad und im indischen Neu-Delhi hätten zudem etwa 1100 Visa für den Familiennachzug erteilt.

Pro Asyl kritisiert den Zwischenstand

Menschenrechtsorganisationen und jene, die die Ausreise der Ortskräfte organisieren, kritisieren die bisherige Bilanz – und fordern die Aufnahme von noch mehr Schutzbedürftigen. „Der Zwischenstand ist erschreckend. Menschen müssen sich dauerhaft verstecken, immer in der Angst von den Taliban ermordet zu werden“, sagte Günter Burkhardt, Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl. „Wenn Ortskräfte allein fliehen, sind die Familien existenzgefährdet. Deren Notlage ist immens.“ Burkhardt führt an, dass sich die Lage der Frauen erheblich verschlechtert habe.

Vielerorts könnten diese nicht mehr allein auf die Straße. Gerade erst schränkten die Taliban die Bewegungsfreiheit und die Rechte von Frauen weiter ein. Einer neuen Richtlinie zufolge sollen sie nur noch längere Reisen unternehmen dürfen, wenn sie von einem nahen männlichen Verwandten begleitet werden.

Die Bundesregierung will derweil die Evakuierung von besonders schutzbedürftigen Menschen nun beschleunigen. Dafür sollen etwa bürokratische Hürden bei der Visa-Erteilung abgebaut werden, wie Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) bei der Vorstellung eines Plans für Afghanistan in der vergangenen Woche sagte.

Für bestimmte Fälle könne dies eine digitale Datenerfassung und Sicherheitsüberprüfung vor der Ausreise und eine Visa-Ausgabe in Transitländern oder beim Eintreffen in Deutschland bedeuten. Es seien insgesamt noch 15.000 Menschen in Afghanistan, zu deren Aufnahme sich Deutschland bereiterklärt habe.

"Wir brauchen eine doppelte Luftbrücke"

„Die Zahl der Aufnahmezusagen hat mit der Realität der Ortskräfte nichts zu tun und wird, wenn sie so niedrig bleibt, viele Tausend Todesopfer kosten“, sagt Axel Steier, Vorsitzender der Organisation Mission Lifeline. Auch die Außenministerin rechne mit falschen Zahlen.

In Afghanistan befänden sich viel mehr Ortskräfte, als von den Ministerien kolportiert. Das Ortskräfteverfahren braucht ganz andere Maßstäbe.“ Denn bisher gelte nur als Ortskraft, wer mittelbar für Ministerien arbeitete. „Das ist völlig verantwortungslos gegenüber den Menschen, die für Subunternehmen arbeiteten.“

Seit August bemüht sich Mission Lifeline um die Rettung von Menschen aus Afghanistan, Mitarbeiter organisieren Pässe für die Ausreise, Visa für die Einreise nach Pakistan, Geld für die Flucht und für Anwälte, die Verträge begutachten und Fragen zur Migration klären.

Kritik übt Steier nun auch daran, dass es kaum Möglichkeiten gibt, Schutz im Ausland zu suchen. „Bis heute ist nur über Pakistan die Ausreise möglich, unter vielen Bedingungen, die die meisten Ortskräfte nicht erfüllen können“, sagt er. Die wenigen Evakuierungen aus Kabul über Doha seien eingestellt worden.

Günter Burkhardt von Pro Asyl fordert nun erheblich stärkere Anstrengungen für gefährdete Menschen in Afghanistan. „Für die Ausreise von Ortskräfte muss mit den Taliban ein Deal geschlossen werden“, sagte er. „Wir brauchen eine doppelte Luftbrücke. Flugzeuge, die mit Nahrungsmitteln und Medikamenten nach Afghanistan fliegen, müssen mit Ortskräften und anderen Bedrohten zurückkehren.“

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