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Politik: Einsam ist der starke Bruder

Der Brite Bill Emmott sieht in den USA die einzige Weltmacht des 21. Jahrhunderts – mit viel Gegenwehr

Der Irak-Konflikt, das wird von Tag zu Tag immer deutlicher, könnte sich eines Tages als historisch noch einschneidenderes Ereignis zu Beginn des 21. Jahrhunderts erweisen, als der 11. September 2001. Die durch die verheerenden Terroranschläge in New York und Washington ausgelösten Solidaritätsbekundungen in aller Welt bestärkten noch einmal das internationale System des gerade zurückliegenden 20. Jahrhunderts, die Nato scharte sich uneingeschränkt um die Führungsmacht USA und rief zum ersten Mal den Bündnisfall aus.

Doch der Streit um den Irak und einen Krieg hat nun das Potenzial, diese Ordnung zu sprengen und zu einem renversement des alliances, zu einer Umkehr der Bündnisse zu führen. Keine der politischen Gewissheiten der letzten 50 Jahre gilt mehr. Die transatlantischen Beziehungen, die EU, und die Nato sind in ihren Grundfesten erschüttert.

In diesem Augenblick der großen Unübersichtlichkeit legt der britische Journalist Bill Emmott, Chefredakteur des renommierten Blattes „The Economist“, ein neues Buch vor, in dem er eine Schneise in dieses politische Dickicht zu schlagen versucht.

„Vision 20/21“ ist eine Studie mit dem Ziel, die voraussichtlichen politischen Machtverhältnisse im 21.Jahrhundert zu beschreiben. Kein journalistischer Schnellschuss gerade rechtzeitig zum Höhepunkt der Auseinandersetzungen um den Irakkonflikt (von dieser dramatischen Zuspitzung konnte Emmott bei der Drucklegung seiner Schrift noch nichts wissen), sondern eine außerordentlich gründliche, kenntnisreiche und deshalb lesenswerte Untersuchung.

Emmott stellt zwei Fragen: Können die Vereinigten Staaten auch im 21. Jahrhundert ihre Stellung als Hegemonialmacht behaupten? Und wird sich der Kapitalismus auf dem Weg der Globalisierung weltweit durchsetzten? Dass er sich beides zum Wohl der Menschheit wünscht, kann bei einem konservativen Journalisten kaum überraschen. Aus seiner Sympathie für Amerika und den Mechanismen des freien Marktes macht er denn auch keinen Hehl. Aber er lässt sich durch seine Vorlieben den analytischen Blick nicht trüben.

Bill Emmott ist davon überzeugt, dass das 20. Jahrhundert von Krieg und Gewalt gekennzeichnet war, weil es über Jahrzehnte hinweg keine Hegemonialmacht gab – bis die Vereinigten Staaten nach 1945 in diese Rolle hineinwuchsen. Und er hält die USA auch weiterhin für die ideale Besetzung dieser Rolle. „Amerika ist weder ein echter Hegemon im Sinne einer Macht, die jedem ihren Willen aufzwingt, noch ein regelrechter Weltpolizist, sondern eine Art großer Bruder; ein Garant für Sicherheit, Vertrauen und Stabilität.“

Abgesehen davon, dass der große Bruder spätestens seit George Orwells „1984“ keine politische Leitfigur mehr sein sollte (big brother is watching you), dürfte diese Beschreibung für die Vergangenheit im Großen und Ganzen wohl zutreffen. Aber das gegenwärtige Auftreten der Vereinigten Staaten ist damit sicherlich nur recht unzulänglich charakterisiert.

Im Augenblick gefällt sich der große Bruder eben eher in der unbeliebten Rolle des allzu herrischen Vormundes. Wer nicht für die Politik von Präsident Bush ist, ist eben gegen Amerika und seine justa causa, sein gerechtes Anliegen, und wird mit Marginalisierung und Verachtung bestraft.

Der Autor setzt sich natürlich auch mit Modellen einer möglichen multipolaren Weltordnung auseinander, aber große Hoffnung setzt er nicht in sie. Dafür ist er zu sehr dem Hegemonialmodell verhaftet.

Zugegeben, man braucht schon viel Phantasie, um sich eine Zukunft mit mehreren Machtzentren auszumalen. Welches Land könnte die USA überhaupt herausfordern? China vielleicht? Ja, das Riesenland hätte nach Ansicht des Autors das Potenzial zu einer zweiten Weltmacht, wenn es seine ganze Wirtschaft auf kapitalistische Methoden umstellen würde. Aber das wäre wohl mit so schweren Krisen und internen Konflikten verbunden, dass es deshalb als Kandidat ausfällt.

Womöglich eine Pax Nipponica an Stelle einer Pax Americana? Die Rangfolge zwischen den beiden Ländern ist bei noch so großen Anstrengungen und Erfolgen Japans mittel- und langfristig unumkehrbar. Das zumindest glaubt Emmott.

Bleibt weltweit als einzige Region Europa, die Europäische Union, die es, wie der Autor vorrechnet, an Wirtschaftskraft nach fast allen Kriterien mit den USA aufnehmen kann. Erst recht im Verbund mit Russland, von dem der britische Journalist annimmt, das es in Zukunft eine immer größere politische Nähe zur EU suchen wird, womöglich eines Tages sogar Unions-Mitglied werden könnte.

Emmott geht davon aus, dass einige oder sogar die meisten europäischen Länder sich irgendwann zu einer wirklichen politischen Union zusammenschließen. „Und wenn das geschieht, wird es wieder zwei Führungsmächte anstatt nur einer geben.“ Eine kühne Prognose, wenn man die gegenwärtige Zerrissenheit der Europäischen Union gerade im Irakkonflikt und im Verhältnis zu Washington sieht. Vor allem aber lässt Emmott die Frage offen, ob eine bipolare Welt stabiler, gerechter und friedlicher wäre als eine Welt unter einem Hegemonialregime. Die bipolare Welt des Kalten Krieges, die 1989/1990 mit dem großen Triumph Amerikas versank, lässt daran in vielerlei Hinsicht Zweifel aufkommen.

Emmott blickt mit „skeptischem Optimismus“ in die Zukunft. „Wird Amerika weiterhin die Welt führen und den Frieden erhalten? Dankenswerterweise ja, aber mit gewissen Spannungen und gegen manche Widerstände. Werden die Stärken des Kapitalismus seine Schwächen so eindeutig überwiegen, dass Bürger und Regierungen ihm in guten und in schlechten Zeiten die Treue halten? Wahrscheinlich ja, jedoch mit einem starken Potenzial an Rebellion, Umstürzen und Anfeindungen.“

Ja, aber! Bill Emmott ist vorsichtig mit seinen Schlussfolgerungen. Er erinnert selbst an das bekannte Bonmot: „Stelle nie Prognosen, besonders keine über die Zukunft.“ Aber gerade deshalb bereichert sein Buch die aktuelle politische Debatte und darf als hilfreicher Wegweiser ins ungewisse 21. Jahrhundert verstanden werden.

Bill Emmott: Vision 20/21. Die Weltordnung des 21. Jahrhunderts. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 368 Seiten. 24,90 Euro.

Gustav Trampe

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