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Politik: Elektroschocks für aufmüpfige Kinder

Der Prozess gegen Sektenführer Schäfer enthüllt die Grausamkeiten in der „Colonia Dignidad“ in Chile

Was Gisela Seewald alias „la doctora“ bei ihrer Vernehmung gestand, verschlug selbst dem hartgesottenen chilenischen Untersuchungsrichter manchmal den Atem. Elektroschocks und Psychopharmaka habe sie aufmüpfigen Kindern der Colonia Dignidad auf Befehl des Sektenführers Paul Schäfer verabreicht, schilderte die 75-Jährige. Richter Jorge Zepeda erhob umgehend Anklage gegen Schäfer und Seewald wegen Folter von Minderjährigen in mindestens acht Fällen. Damit ist das erste Verfahren gegen den 84-jährigen Chef der umstrittenen Deutschensiedlung offiziell eröffnet.

Ihm drohen noch weitere Prozesse wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern, Freiheitsberaubung, Steuerhinterziehung und Waffenschmuggel. Schäfer hatte sich 1997 aus Chile abgesetzt, als ein Haftbefehl gegen ihn erlassen wurde. Fahnder spürten ihn im März in Argentinien auf. Von dort aus wurde er nach Chile überstellt.

Damit kommt nun eines der düstersten Kapitel deutsch-chilenischer Beziehungen vor Gericht. Die „Colonia Dignidad“ wurde 1961 von dem deutschen Ex-Nazi im Süden Chiles nahe der Stadt Parral gegründet. Fast vier Jahrzehnte lang hatte der ehemalige Wehrmachtsgefreite und Laienprediger in der Enklave in totalitärer Art und Weise geherrscht. Kinder wurden im Alter von sieben Jahren von ihren Eltern getrennt, in so genannten „Kinderhäusern“ aufgezogen und von Schäfer missbraucht. Kontakt mit der Außenwelt war nur Schäfer und seinen Helfershelfern erlaubt. Rund 300 Deutsche lebten bis vor kurzem in dem landwirtschaftlichen Anwesen unter sklavenähnlichen Bedingungen. Inzwischen hat die chilenische Justiz mit der Auflösung der Siedlung begonnen, die sich heute „Villa Baviera“ nennt.

Die Billigung der chilenischen Behörden hatte sich Schäfer durch seine Kooperation mit der Militärdiktatur von Augusto Pinochet, der von 1973 bis 1990 herrschte, erkauft. Auch die deutsche Botschaft in Santiago schützte lange Zeit die Siedlung, obwohl Organisationen wie Amnesty International schon frühzeitig auf die Menschenrechtsverletzungen dort hingewiesen hatten. Damals diente Zeugenaussagen zufolge ein unterirdisches Tunnelsystem in der Siedlung als Folterlager für politische Gefangene. In dieser Zeit besuchte Pinochet mehrmals die Colonia Dignidad.

Erst mit dem Ende der Militärdiktatur und nachdem chilenische Mütter sich beschwert hatten, ihre Kinder seien während der Behandlung im Krankenhaus der Colonia missbraucht worden, begannen die Behörden, genauer hinzusehen. Seewald, die das Krankenhaus der Siedlung zwischen 1975 und 1978 geleitet hatte, berichtete von Strafmaßnahmen gegen Kinder und Jugendliche, die sich weigerten, Anordnungen des Leitungspersonals der Siedlung zu befolgen. Auch Kinder, die sich dem sexuellen Missbrauch widersetzten, wurden demnach mit Beruhigungsmitteln und Elektroschocks misshandelt. Bis zu drei Monate dauerte die Tortur. Ziel sei es gewesen, die Familien auseinander zu reißen und den sexuellen Kontakt zwischen Jungen und Mädchen zu vermeiden, um sie „moralisch rein“ zu halten.

Zuvor hatte Richter Zepeda schon zahlreiche Opfer dieser Praktiken vernommen. Die Seewalds gehörten zu den engsten Mitarbeitern Schäfers. Giselas Mann Gerd hatte beispielsweise die Liste linker Regimegegner erstellt, die im Juni in der Siedlung entdeckt wurde. Er war im vergangenen Jahr zusammen mit weiteren Sektenmitgliedern wegen Beihilfe zum Kindesmissbrauch zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Derzeit durchforsten Anthropologen und Gerichtsmediziner das 13 000 Hektar große Gelände auf der Suche nach Überresten ermordeter Oppositioneller, deren letzter bekannter Aufenthaltsort die Colonia Dignidad war.

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