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Elie Wiesel während seiner Rede im Bundestag am 27. Januar 2000.

© dpa

Elie Wiesel im Bundestag: "Ich spreche nicht mit Hass"

Zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar sprach Elie Wiesel im Jahr 2000 im Bundestag. Aus Anlass seines Todes lesen Sie hier Auszüge aus seiner Rede.

Der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel ist am Samstag im Alter von 87 Jahren in New York gestorben. Der Überlebende der Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald sprach am 27. Januar 2000 zum Holocaust-Gedenktag im Bundestag. Wir dokumentieren Auszüge aus seiner Rede.

In der Gedenkstunde des Bundestages sagte Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel, einer der Überlebenden des Holocausts, in einer Rede, die er mit einem jüdischen Gebet ("Ich danke dir, Gott, dass ich heute hier sein darf") einleitete, unter anderem

"Vor etwa 60 Jahren, genau in dieser Metropole, in der wir hier sind, in dieser Stadt, wurde dieser Mensch, der ich bin und seine Gemeinschaft, sie wurden zur Isolation, zum Leid, zur Verzweiflung und zum Tode verurteilt. Und doch, ich hoffe, dass Sie mir glauben: Ich bin ein Zeuge und ich spreche zu Ihnen heute weder mit Bitterkeit noch mit Hass ...

Als ich in diesen Saal trat, habe ich mein Gedächtnis und meine Erinnerung nicht hinter mir gelassen. Denn gerade hier, weil Sie hier sind, sind diese Erinnerungen lebhafter denn je zuvor ... Seit meiner eigenen Befreiung, und das war am 11. April 1945, habe ich alles gelesen, was in Reichweite kam, um die Implikationen zu verstehen, was damals geschah ... : Die Nürnberger Gesetze, die antijüdischen Erlasse, die Kristallnacht, die öffentlichen Demütigungen stolzer jüdischer Bürger, auch solche, die im Ersten Weltkrieg gekämpft hatten, die ersten Konzentrationslager, die Euthanasie, die Wannsee-Konferenz ... Dachau, Auschwitz, Majdanek, Sobibor - das waren die Kapitalen, die Hauptstädte dieses Jahrhunderts. Diese Namen werden immer wie schwarze Flaggen vor uns stehen ...

Wie konnten solche klugen jungen Menschen, die exzellente Erziehung aus den besten Familien und Diplome von den besten Universitäten Deutschlands hatten, wie konnten sie es zulassen, dass sie so vom Übel verführt wurden, dass sie den Genius einsetzten auf Quälen und Töten von jüdischen Männern, Frauen und Kindern, die sie noch nie gesehen hatten ...

Mein Volk hat viele Feinde gehabt, seitdem es auf der Bühne der Welt aufgetreten ist, viele sind uns bekannt, aber niemand hat uns so tief verletzt wie Hitlers Deutschland ... Wir haben viele Formen der Isolierung erlebt, wir haben die Kreuzzüge, die Inquisition, die Pogrome überlebt, die verschiedensten Arten von tief eingewurzeltem Antisemtismus, aber der Holocaust ging viel weiter. Kein Volk, keine Ideologie, kein System hat je solche Brutalität, Leiden und Demütigung in solcher Größenordnung irgendeinem Volk auferlegt wie Ihr Volk es meinem in solcher kurzen Zeit angetan hat...

Bis zum Ende der Zeiten wird Auschwitz ein Teil Ihrer Geschichte bleiben, wie es auch weiterhin ein Teil meiner Geschichte sein wird ... Ich glaube nicht an die Kollektivschuld, nur die Schuldigen sind schuldig ... Die Kinder von denen, die töten, sind keine Mörder, sondern Kinder ... Und das, was sie tun, um wiedergutzumachen, ihr Land, ihre Menschen, das ist außergewöhnlich ... Dieser 27. Januar ist nun zum Gedenktag geworden, ich würde sagen, es ist der nationale Holocaust-Gedenktag für Sie geworden, und das ist ein Beschluss, der Sie ehrt ... Es wird höchste Zeit, dass Kain nicht mehr seinen Bruder Abel erschlägt ...

Sie gehören heute zur Familie der Völker und Sie haben beschlossen, den jüdischen Opfern zu helfen, aber auch allen anderen ... Aber ich glaube, die Zeit ist auch gekommen, dass Sie eine Geste machen sollten, die weltweit einen Widerhall finden würde. Herr Präsident Rau, Sie haben ja vor 14 Tagen mit Auschwitz-Überlebenden gesprochen und einer von ihnen berichtete mir, dass Sie dann das ausgedrückt haben, nämlich etwas, was Sie sehr bewegt hat: Sie haben um Verzeihung gebeten, für das, was das deutsche Volk ihnen, den Opfern, angetan hat.

Warum können Sie es nicht hier tun im Geiste dieser feierlichen Gelegenheit? Warum kann es nicht der Bundestag bekannt geben ... und sagen, dass Sie das jüdische Volk um Verzeihung bitten, in Deutschlands Namen. Sagen Sie es, tun Sie es, es wird einen außerordentlichen Widerhall in der Welt finden. Tun Sie es und die Bedeutung dieses Tages wird dann eine höhere Dimension gewinnen. Tun Sie es, und die Welt wird wissen, dass das Vertrauen in Deutschland berechtigt ist ..."

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