zum Hauptinhalt

Politik: Eltern mit Arbeit – Kinder ohne Eltern

Seit der EU-Erweiterung sind rund zwei Millionen Polen auf Jobsuche ins Ausland gegangen. Darunter leiden jetzt viele Töchter und Söhne

Berlin - Mathilde P. ist 33 Jahre alt. Die Polin kommt aus Lubin in Niederschlesien, sie wollte immer eine eigene Familie haben. Vor sieben Jahren hat sie Rafal K. geheiratet. Ein Jahr später kam ihr erster Sohn zur Welt. Das Kind starb zwei Tage nach der Geburt. Einige Jahre später bekam sie einen zweiten Sohn, Jarema. Er wurde 2004 geboren – in dem Jahr als mit der EU-Erweiterung Polen Mitglied der Europäischen Union wurde.

Es war das Jahr, in dem sich auch der neue Arbeitsmarkt für Polen zumindest teilweise öffnete. Seitdem haben rund zwei Millionen Polen für sich eine Perspektive im Ausland gesucht. Genau so wie Mathilde und Rafal, die damals beide arbeitslos waren. Rafal reiste nach Italien, wo seine beiden Schwestern schon arbeiteten. Seit drei Jahren hat man nichts mehr von ihm gehört. Mathilde zog, wie weitere 580 000 Polen, nach Großbritannien. Jetzt wohnt sie in der Nähe von London und arbeitet in einer Papierfabrik. Jeden Tag macht sie zwei Schichten, um möglichst viel zu verdienen. Sie bekommt etwa sechs Pfund (rund 7,60 Euro) die Stunde. Sie teilt sich eine Dreizimmerwohnung mit drei weiteren Personen.

Jarema ist jetzt fast vier Jahre alt und wohnt bei den Großeltern. Seine Großmutter ist schwer an Diabetes erkrankt. Sein Großvater hat eine kleine Baufirma und verbringt ganze Tage auf Baustellen. Der Junge wächst mehr oder weniger allein auf. Er rennt ständig von zu Hause fort und spaziert allein durch Lubin. Auch die Polizei hat ihn schon nach Hause gebracht. Mathilde sagt, zur Zeit könne sie ihr Kind nicht nach London nehmen. Doch eine Rückkehr nach Polen kommt für sie auch nicht in Frage. Der Durchschnittslohn liegt dort bei 700 Euro im Monat. In London verdient sie 2700 Euro, fast viermal soviel, und sie schickt regelmäßig Geld nach Hause.

Mathilde und Rafal sind keine Ausnahme. In Polen leben etwa 130 000 EU-Waisen. Damit sind Kinder gemeint, die durch die Auswanderungswelle nach dem EU-Beitritt mindestens ein Elternteil verloren haben. Etwa die Hälfte dieser Kinder lebt mit Mutter oder Vater zu Hause, der jeweils andere arbeitet im Ausland. Ein Viertel dieser Kinder wohnt bei Großeltern. Rund zehn Prozent werden von erwachsenen Geschwistern erzogen, drei Prozent leben bei anderen Verwandten. Einige mussten sogar in Kinderheime umziehen. Mittlerweile gibt es in fast jedem polnischen Kinderheim EU-Waisen. Ähnliches wird aus anderen neuen EU-Staaten, etwa aus Rumänien berichtet.

Polnische Medien schreiben von tragischen Folgen dieses Phänomens. Einige der allein gelassenen Kinder haben sich das Leben genommen. Einer dieser Abschiedsbriefe war auf Englisch geschrieben. „Ich wollte Euch warnen, aber niemand hörte zu“, schrieb der 14-jährige Adam, bevor er sich von einem Strommasten stürzte. Viele Lehrer beklagen, die betroffenen Kinder schwänzten die Schule, seien aggressiv oder besonders verschlossen. Ihre Leistungen in den Schulen sind fast durchgehend schlechter als die ihrer Altersgenossen.

Die Kinderheime wiederum klagen, Eltern würden versuchen, ihnen Kinder unterzuschieben. Dabei würden sie auch Druck ausüben: „Wenn Sie das Kind nicht nehmen, lasse ich es allein zurück.“ Die Politik beginnt erst jetzt, sich mit dem Thema Abwanderung und dem Schicksal der EU-Waisen zu befassen.

Malgorzata Borkowska

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false