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Politik: Eltern seinverpflichtet

STREIT UMS ERBEN

Von Jost Müller-Neuhof

Das letzte Grundrecht, das dem Menschen im Leben zusteht, ist sein teuerstes. Jedes Jahr vererben die Deutschen 200 Milliarden Euro, Tendenz steigend. An wen sie wollen – und an jene, die das Gesetz ihnen vorschreibt. Das freut den einen, schmerzt den anderen, macht neidisch oder verlegen, lindert Trauer, hilft aus Not. Erben ist keine sehr gerechte Sache. Aber mit den Jahren, sagen Experten, ist sie immer ungerechter geworden. Jetzt, auf dem Juristentag in Berlin, fordern sie Reformen – und rütteln damit an den Grundfesten der Familie. Umstritten ist der Pflichtteil, die Hälfte des gesetzlichen Erbteils, der Kindern auch zusteht, wenn sie enterbt sind. Er soll gestutzt werden, manche wollen ihn gar abschaffen. Mit unabsehbaren Konsequenzen für die finanzielle Situation von Hunderttausenden und, was schwerer wiegt, mit unabsehbaren Konsequenzen für das solidarische Band von Eltern und Kindern.

Dabei gibt es Anlass, über Veränderungen nachzudenken. Wir erben und vererben nach Regeln, an denen ein Jahrhundert vorübergezogen ist. Die Menschen leben immer länger. Wenn heute der Erbfall eintritt, dann sind die Begünstigten durchschnittlich zehn Jahre älter, als dies zurzeit des Inkrafttretens des Bürgerlichen Gesetzbuchs der Fall war. Erben sind nicht mehr Menschen, die aufbauen, sondern mit 40 bis 50 Jahren bereits die Früchte ihrer Arbeit genießen. Oder, auch das gibt es, gar anfangen, an die Rente zu denken. Für sie ist Erben Gewinn, wie Glück im Spiel oder an der Börse, aber nicht mehr sozialer Halt in schwieriger Zeit. Zudem erodiert das klassische Familienbild durch immer mehr Scheidungen und eine steigende Zahl nichtehelicher Kinder. Familiäre Beziehungen sind heute vielfältiger als früher – und viele werden im Laufe des Lebens immer ferner. Nur: Sollte man deshalb für sie weniger verantwortlich sein?

Im Erbrecht steckt mehr Wahrheit über die Ordnung einer Gesellschaft, als es zunächst den Anschein haben mag. An ihm zeigt sich, wie sozial es wirklich um jenes hohe Gut bestellt ist, das doch dem Wohle aller dienen soll: dem Eigentum. Die radikale Testierfreiheit hielten nicht einmal jene Apologeten des Eigentums durch, auf denen unsere Ordnung der Dinge bis heute gründet. Auch im alten Rom kam man zur Einsicht, dass es neben dem Verfügungsrecht des Erblassers berechtigte Ansprüche seiner Nachkommen gibt – unabhängig davon, ob man Nähe zueinander verspürte oder sich herzlich abgeneigt war.

Eine luzide Erkenntnis, hinter der man einige tausend Jahre später nicht zurückfallen sollte. Erbe verpflichtet – so wie jeder einzelne Mensch, den man in die Welt gesetzt hat, verpflichtet. Sonst verfügt, im schlimmsten Fall, eine Generation der Alten ihr Vermögen untereinander, anstatt ihr Geld an jene weiterzugeben, die derweil ihre Rente zu verdienen haben.

Zu reden ist deshalb vernünftigerweise nur über Eingriffe unterhalb dieser Schwelle. Über eine Reduktion des in der Tat hohen Pflichtteils etwa zugunsten von etwas mehr Testierfreiheit. Die richtige Gewichtung mag hier jede Generation neu austarieren. Vorrangig ist diese Debatte jedoch nicht. Nötig ist, das in die Jahre gekommene gesetzliche Gerüst vorsichtig zu entstauben. Dazu gehört, Nachkommen in wirklich berechtigten Ausnahmefällen enterben zu können, nicht nur wie bisher bei Misshandlungen, sondern auch nach Seelenqualen, wie es der Juristentag empfohlen hat. Und dazu gehört auch, niemanden mehr wegen „unsittlichen Lebenswandels“ zu enterben. Solidarität in der Familie ist gerade dann nötig, wenn man sich nichts mehr zu sagen hat und sich nichts mehr sagen will. In allen anderen Fällen genügt Liebe.

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