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"Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse kommen überall hin": Die Slutwalks – hier in Edinburgh – machen mit einer alten Weisheit der Frauenbewegung neu Ernst.

© REUTERS

Emanzipationsbewegungen: Die lange Tradition der Schlampenmärsche

Der provokante Auftritt bei den Slutwalks ist keine Neuerfindung. Die Netzstrumpfrevolte hat historische Vorbilder in der Frauenbewegung.

Berlin - Ob so die neueste Frauenbewegung aussieht? Vor vierzig Jahren feierlich den BH verbrannt, inzwischen geht nicht nur kaum eine mehr oben ohne: Das Zeug kann auch gar nicht pushy genug sein. Und dazu versteckt frau sich nicht mehr in frauenbewegtem Wallelook wie einst nach dem Mai ’68, sondern trägt enge Tops, Minis, schwindelhohe Absätze und blutrote Lippen. Was sonst privat ist, soll nun in mehreren deutschen Städten politisch werden: In Berlin, Hamburg, München, Frankfurt am Main, Dortmund und Stuttgart wollen sie heute auf „Schlampenmärschen“ ein Zeichen setzen, „für sexuelle Selbstbestimmung und gegen Verharmlosung sexueller Gewalt“, wie es auf der Berliner Website Slutwalkberlin.de heißt. Allein für die Hauptstadt erwarten die Veranstalterinnen 3000 Teilnehmerinnen.

Die Bewegung ist noch sehr jung. Sie entstand im Frühjahr aus der Wut über einen kanadischen Polizisten, der den Frauen vorhielt, sie sollten sich nicht wie Schlampen kleiden, dann würden sie auch nicht vergewaltigt. Ihm und anderen, die so denken, antworten seither Frauen aus aller Welt, die in Strapsen und Highheels ebenso wie in Kostüm und Businessdress für ihr Recht auf die Straße gehen. „Mein kleines Schwarzes ist kein Ja“, heißt es auf ihren Plakaten. „Nur weil ich deine Aufmerksamkeit habe, hast du nicht meine Zustimmung“ oder auch „Natürlich will ich’s, aber nicht von dir“. Und sie rufen dazu auf, nicht zu fordern: „Lass dich nicht vergewaltigen“, sondern „Vergewaltige nicht!“

Video: Eindrücke und Stimmen des Slutwalk 2012 in Berlin

Wo Politik mit so viel Körpereinsatz gemacht wird, ist ihr Medienaufmerksamkeit so gut wie sicher. Die Reaktionen zeugen aber oft von deutlichem Widerwillen: „Ist das wirklich der richtige Weg, auf diese Missstände aufmerksam zu machen“, fragte kürzlich pikiert die konservative „Welt“. Da gebe es doch so viel Wichtigeres – die Berufschancen der Frauen, die Kinderbetreuung, die gerechte Aufteilung der Hausarbeit. Aber auch innerhalb der Frauenszene hat die angriffslustige Strategie der „Schlampen“ nicht nur Zustimmung: Die Frage sei doch, „ob die Mittel stimmen“, heißt es zum Beispiel auf „Mädchenblog“: „Ist es emanzipatorisch, das Wort ,Schlampe’ durch Selbstbezeichnung und Neuinszenierung aus der patriarchalen Schmuddelecke zu holen? Und sind High-Heels, Miniröcke und Netzstrümpfe für Frauenbefreiung wirklich notwendig?“

Wird das Wort "Schlampe" einen Bedeutungswandel erfahren? Lesen Sie weiter auf Seite 2.

Notwendig oder nicht: Die Strategie, Abwertungen stolz in Selbstbezeichnungen umzuwandeln, hat jedenfalls eine lange emanzipatorische Geschichte. Zuletzt zeigten das in den vergangenen Jahrzehnten die Homosexuellen, die „schwul“ als Beschimpfung unbrauchbar machten, indem sie das Wort adoptierten und salonfähig machten. Jahrhunderte zuvor hatte sich etwa die holländische Aufstandsbewegung „Geusen“ (Bettler) benannt – mit dem Wort, das ihre spanischen Herren in herabsetzender Absicht auf sie gemünzt hatten. Welchen Bedeutungswandel die „Schlampe“ dereinst erleben wird, bleibt also geduldig abzuwarten.

Und auch für emanzipatorische Nutzung des vorgeblich Aufreizenden gibt es Vorbilder: Ende der 60er Jahre schockierte die österreichische Medienkünstlerin Valie Export mit ihrem „Tapp- und Tastkino“ das Publikum, vor allem das männliche. Export ging mit einer Art Guckkasten vor der blanken Brust auf die Straße und forderte Passanten auf zuzugreifen. Die reagierten mal schockiert, man verlegen – auf jeden Fall nicht animiert. Das Ziel war erreicht: Indem Export die Peepshow öffentlich machte, nahm sie ihr den Reiz; die selbstbewusste Aufforderung, doch zuzugreifen, ließ die Erniedrigung verpuffen, die das Betatschtwerden üblicherweise bedeutet – und die Lust dazu schwinden. Als „ersten Film von, über und mit Frauen“ pries die Künstlerin selbstironisch ihr Werk. „Der Kommerzfilm bietet nur Surrogate, wir bieten wirklich etwas.“ Exports Experimente zeigte auch die unbedingte Abhängigkeit von angeblich klar lesbaren Situationen von ihrem Kontext. Nackte Frau bietet sich Mann an – was im Pornokino eine Machtbeziehung zu Lasten der Frau war, drehte sich in Exports Kunst komplett zu ihren Gunsten um. So wie die Nacktheit etwa in Berlusconis Titten-TV nur äußerlich der der „Schlampen“ gleicht – und eine völlig andere Sprache spricht.

Exports österreichische Landsfrau Erica Fischer, eine der Gründerinnen der neueren österreichischen Frauenbewegung in den 70er Jahren, erinnert sich an Exports Aktionen noch immer mit Bewunderung. Diese Art radikaler Politik mit dem eigenen Körper fand freilich lange keine Nachfolgerinnen. „Wir hätten uns das damals niemals getraut“, sagt Fischer, die heute als Schriftstellerin und Journalistin in Berlin lebt. „Valie Export war ein Einzelfall, und das vor der Frauenbewegung.“ Dass die Slutwalks sich wieder aufs „selbstbewusste Präsentieren des Körpers“ als politische Form besinnen, hält Fischer für „die historische Fortführung der Frauenbewegung alter Schule“. Einen historischen Fortschritt.

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