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Pegida-Anhänger ziehen mit Plakaten durch Dresden. Bei einem Ableger der rechten Bewegung in Brandenburg werden ähnliche Parolen gerufen und Transparente gezeigt.

© AFP

Empathie und die Flüchtlinge: Die unheimliche Not der anderen

Warum haben die einen Empathie für Flüchtlinge, die anderen nicht? Das Rätsel berührt eine zentrale Frage der Gattung Mensch. Ein Essay

Ein Essay von Caroline Fetscher

Zwei New Yorker Therapeuten treffen sich beim Joggen am Strand von New Jersey. Sagt der eine: „You are fine! How am I?“ Das ist schon der ganze Witz. Ein schöner Witz, er hat es in sich. „Ihnen geht es gut! Wie geht es mir?“ In sein Gegenüber kann ein guter Therapeut oder Psychoanalytiker sich besonders gut einfühlen. Das gehört zum Beruf. Von seinem Kollegen erhofft, erwartet er hier umgekehrt für sich selber Mitempfinden, Einfühlung. Das ist der Affekt, der in den abertausend Ehrenamtlichen geweckt wurde, die augenblicklich dafür sorgen, dass Geflüchtete aus zerfallenden oder zerrütteten Staaten im Mittleren Osten, in Asien, dem Maghreb oder Afrika südlich der Sahara in Deutschland willkommen geheißen werden. Jene Ehrenamtlichen und Gutwilligen also, auf die sich die regierende Koalition stützt, wo sie ihr Leitmotiv „Wir schaffen das!“ verteidigt.

Rein faktisch hat sich im Alltag der allermeisten wenig verändert

Noch vor wenigen Wochen, im Juni, wurde Kanzlerin Angela Merkel vorgeworfen, dass sie bei einem Bürgerdialog in Rostock der Teenagerin Reem Sahwil erklärte, ihr Aufenthaltsstatus als Asylsuchende sei nicht gesichert. Nicht alle würden bleiben dürfen, hatte die Kanzlerin bedauert. Das Mädchen brach in Tränen aus, die Öffentlichkeit war erschüttert von der Kanzlerin, sie zeige zu wenig Empathie. „Merkel muss endlich erkennen, dass Flüchtlinge ein Gewinn für Deutschland sind“, kritisierte nicht nur die „Süddeutsche Zeitung“. Inzwischen wird derselben Merkel vorgeworfen, mit ihrem Zitieren des Grundgesetzes, wonach es für Anträge auf Asyl keine Obergrenze gibt, das Gegenteil zu demonstrieren: zu viel Empathie. Merkel wurde als Mutter Teresa karikiert, Medien beschwören den angeblichen Steuerungsverlust der Politik. Vorübergehend schien geradezu ein Überschuss an Mitempfinden vorhanden. Medial und durch gezielte, rechte Propaganda auf lokaler Ebene wurde die Empathie heruntergekocht, das Ressentiment hingegen geschürt. Das Bundeskriminalamt zählte 2015 bereits 104 Gewalttaten gegen Herbergen von Asylbewerbern, 53 davon Brandstiftungen.

Dabei hat sich rein faktisch im Alltag der allermeisten wenig verändert. Der Wirtschaft verzeichnet Rekordüberschüsse, die Arbeitslosigkeit ist auf ein Rekordtief gesunken, die Renten sind gestiegen, und Flüchtlinge in Person bekommen weiterhin vor allem die Ehrenamtlichen und Behördenmitarbeiter zu Gesicht. Aber die generelle Empathiebereitschaft scheint abzunehmen.

Erbittert streiten ein paar Berliner Nachbarn am Küchentisch. Ein wohlhabender Handwerksmeister erklärt seine Unruhe darüber, dass ein „Strom an Fremden massenhaft ins Land drängt“. Horden aus den Gebieten der Armut hätten sich aufgemacht, unser Sozialsystem zu plündern. „Was wollen die hier? Uns hat auch keiner was geschenkt!“ Seine alte Mutter, einst aus Ostpreußen vertrieben, schimpft über ihre geringe Rente. „Das darf nicht wahr sein – alte, deutsche Leute leben in Armut, aber für Dahergelaufene gibt man Milliarden aus!“ Sicher, schlimm sei das da, wo diese Leute herkommen. „Aber“, greift die alte Dame zur aktuellen Formel eins der Abwehr: „Wir können nicht alle retten!“

„Wer zahlt denn das Ganze?“

Eine Frau, zu deren Vergangenheit Flucht und Not gehört und die Schutz gefunden hat, lehnt die Schutzsuchenden der Gegenwart ab. „Ihr habt doch selber so was erfahren!“ argumentiert ein andrer Nachbar. „Ihr seht doch die Bilder von denen, die durch kalte Flüsse waten, die in Containern hausen!“ Das humanitäre Gerede, das habe er satt, wirft der Sohn ein. „Wer zahlt denn das Ganze? Hier, ich, wir!“

Wie Pfeile schießen die Ausrufezeichen hin und her. Rentnerin und Sohn empören sich über die Naivität der anderen Ansichten. Dann müssen sie los, raus mit dem Cockerspaniel, der ihnen über alles geht. In der Fürsorge für das Tier sind sie rührend. Den anderen am Tisch bleibt es rätselhaft: Wie kann jemand, der selber Not erlitten hat, für das Leid von anderen so wenig empfinden? Der aus Dresden stammende Dichter Durs Grünbein hat angesichts von Pegida-Demonstranten gefragt: „Wo kommt diese unglaubliche Kälte her? Da sind alte Frauen dabei, die auch mal Mütter waren. Warum haben die kein Mitleid, wenigstens mit den Kindern?“

Doch wie entsteht Empathie?

Das ist eine überaus politische Frage. Denn Empathie, die Fähigkeit, sich aus der Perspektive des anderen dessen Affekte und Lage vorstellen zu können, ist die Basis des Sozialen, eine der wichtigsten Voraussetzungen für Gesetz und Gesellschaft. Doch wie entsteht Empathie? Was ist ihre Quelle?

Bis vor Kurzem galt eine neue Entdeckung in der Hirnforschung als Schlüssel zur Erklärung: Die Spiegelneuronen. Forscher hatten beobachtet, dass im Gehirn von Affen ähnliche Neuronen feuern, wenn sie selber nach einer Frucht greifen, als wenn sie einen Artgenossen nur dabei beobachten, wie dieser nach einer Frucht greift. Ihr Hirn spiegelt sozusagen imitierend die Handlung des anderen: Sie empfinden mit. Unterdessen wurde die vermeintlich bahnbrechende These entmystifiziert. Auf Menschen sei sie so nicht anwendbar, räumte Gregory Hickok, einer der Fachleute, die die These vertreten hatten, Anfang des Jahres ein. „Der Mensch ist nicht sozial, weil er dank Spiegelneuronen imitieren kann“, sagt Hickok jetzt. „Er imitiert, weil er sozial ist.“ Warum aber ist er sozial – oder kann es sein? Und wann, warum wird er es nicht?

Die Genese von Empathie ist eine, wenn nicht die Kernfrage der Gattung Mensch. Geschaffen wird die Basis für Empathie, so die Erkenntnis der Psychologie, bereits in den frühen Jahren, in der Kinderzeit eines Menschen. Während das Potential für Empathie physiologisch in jedem Menschen angelegt ist, braucht es bestimmte Bedingungen, um sich zu entwickeln. Mit Spiegeln hat das durchaus zu tun. Erfährt das Neugeborene, das Kleinkind adäquate Antworten auf seine Bedürfnisse, wenn es Hunger, Durst, Angst hat, wenn es friert, Beruhigung braucht, Nähe oder Raum zum Erkunden der Umwelt, dann erwirbt es nach und nach die Kunst der Selbstregulierung von Affekten. Es erkennt, was guttut und was nicht. In Kommunikation und Spiel entfaltet das Kind die Fähigkeit, auf andere zu antworten. Der fürsorgliche andere wird in die Psyche aufgenommen, als sein Echo entsteht, was Psychologen „ein inneres, gutes Objekt“ nennen. Es hilft gewissermaßen, Emotionen zu „verdauen“. Analog zu seiner eigenen Erfahrung erfasst das Kind, was dem anderen guttut und was nicht: Es empfindet mit. Es „sorgt“ für die Puppe oder das Stofftier, es leidet mit einem seiner Geschwister, das sich das Knie aufgeschlagen hat: „Ich hatte Angst, und bin beruhigt worden – es tut gut, zu erleben, wenn jemand anders beruhigt wird, ich weiß, wie es sich anfühlt, ich kann mich identifizieren.“

Bleiben Emotionen unverdaut, stauen sie sich

Je nach Temperament wird im Weltvertrauen der Wunsch stärker, selber anderen Sicherheit zu geben, abzugeben, das Gute zu teilen – und es als Glück zu erkennen, dass sich das Gute dabei vermehrt. Transformiert in die soziale und politische Sphäre kann die Fähigkeit zur Empathie zum Sinn für Gerechtigkeit und Menschenrechte reifen, zum Interesse am Gestalten der Gesellschaft, am Stiften von Sinn.

Ungezählte Serien von kleinen Interaktionen und Erlebnissen, Narrativen und Dialogen, ungezählte Episoden des Aushandelns eigener und fremder Grenzen arbeiten auf diesem Lernpfad mit daran, die soziale Kompetenz des Individuums zu erweitern. Dieser Prozess ist enorm dynamisch. Zur emotionalen und kognitiven Arbeit, die ihn begleiten, gehören Brüche, Enttäuschungen, Rückschläge. Keinen Schritt auf diesem Arbeitsweg der Affekte geht ein Kind oder Jugendlicher völlig allein, jede Etappe ist reich an Erlebnissen mit intersubjektivem Charakter.

Werden aber Bedürfnisse wieder und wieder nicht angemessen beantwortet, dann klaffen große Lücken auf dem sozialen Lernpfad. „Ich hatte Angst, und keiner hat mich beruhigt. Dem anderen war ich nicht genug wert, ich wurde ignoriert. Mit Neid, Wut oder Hass sehe ich, wie andere beruhigt werden und Sicherheit bekommen.“ Bleiben Emotionen unverdaut, stauen sie sich, manchmal bis ins Unerträgliche. Das Weltvertrauen fragmentiert, und um zu überleben, schafft das Subjekt für das Unerträgliche abgespaltene Räume. Im Dunklen, Unbewussten hausen entwertete Teile des Ich, ins Bewusstsein dringen darf nur, was für das Ich erträglich ist. Viel emotionale Kapazität wird dabei absorbiert, großer seelischer Raum wird eingenommen von der Schwerarbeit, solche Spaltung zu erhalten. Zugleich schrumpft in der Architektur der Psyche der Raum, der das Potential zur Entfaltung von Empathie enthält. Früh erlernte Muster dieser Art wandern mit ins erwachsene Leben, wo sie zum verzerrten Tableau eines negativen, pessimistischen Weltentwurfs beitragen. Rationalisiert ertönt der Ausdruck dieses Entwurfs wie eingangs zitiert: „Uns hat auch keiner was geschenkt.“ Oder: „Mir haben die Schläge auch nicht geschadet.“ Oder: „Was kann ich dafür, wenn es anderen dreckig geht?“ Mit dieser Volte nimmt der andere den Platz des abgespaltenen, psychischen Materials ein: Er steht für das Entwertete im eigenen Inneren.

In ihrer Abwehr kapern die Xenophoben mitunter die großen Themen der Politik

In den 1990er entrüstete sich ein hochrangiger Mitarbeiter des Innensenats in einem informellen Gespräch, asylsuchende Bosnierinnen, die Vergewaltigung überlebt hatten, sollten sich „nicht so anstellen“. „Deutsche Frauen wurden auch im Krieg vergewaltigt – und die sind nicht weggerannt! Als Trümmerfrauen haben sie die Städte wieder aufgebaut!“ Klar sprachen unverdaute Emotion und unbearbeitetes Trauma aus dem Mund des Politikers – transformiert ins Ressentiment.

Empathiearmut birgt, verbirgt Texte wie diese: Die anderen sind so elend, wie wir mal waren, daran will ich nicht erinnert werden. Der Elende löst die Furcht aus, ich könnte selbst ins Elend rutschen. Er bedroht mich, denn er wird mir aus Neid etwas wegnehmen. Seine Not ist mir unheimlich, durch die Konfrontation mit ihr wirkt Wohlstand nicht mehr selbstverständlich. Konfliktzonen, die weit weg lagen – im virtuellen Woanders – verschieben sich real und in Gestalt der Fremden hierher.

Im Gegenzug, in der Abwehr ihrer Abwehr, kapern die Xenophoben derzeit mitunter die großen, empathischen Themensphären der Politik. Pegida-Anhänger haben sich schon öffentlich zu Ureinwohnern Amerikas heroisiert, die in kolonialistischer Manier von Fremden überrollt würden. Doch noch hinter dem komischen Pathos solcher Vergleiche wird der Inhalt des Abgespaltenen sichtbar, das, besonders in den neuen, vom Westen „kolonialisierten“ Bundesländern, dabei unbewusst verhandelt wird.

Zur politisch intelligenten Antwort auf die Dynamik von Empathie und Empathiearmut gehört nicht nur das Investieren in exzellente frühkindliche Förderung und familiäre Gewaltprävention. Dazu gehört auch die tröstliche, wissenschaftliche Erkenntnis, dass Empathievermögen durchaus im Erwachsenenalter nachreifen kann und sich ebenso wecken lässt, wie es betäubt werden und brachliegen kann. Den Worten und Metaphern, mit denen Politik und Medien begründete Zuversicht und erkennbares Handlungsgeschick vermitteln, kommt dabei eine Hauptrolle zu. „Wir schaffen das“ ist ein guter Satz für den Beginn eines sinnvollen Vorhabens. Denn was sollte eine wie auch immer geartete, gegenteilige Aussage bewirken? Sie kann nur Hilflosigkeit signalisieren und verunsichernd wirken. Wer aus Schwarzmalerei politisches Kapital schlagen will, trägt dazu bei, den gesellschaftlichen Raum der Empathie zu schrumpfen – ein destruktiver Tatbestand.

Aber „wir schaffen das“ genügt nicht. Die seelischen Nöte auch derer aufzugreifen, die sich bedrängt vom Fremden sehen, aus ihrem Inneren wie von außen, erfordert politische Courage in der Bereitschaft, sich mit der psychischen Dynamik der Ängste auseinanderzusetzen, die existieren. Nicht nur bei den Einheimischen, die Fremdenangst haben und schüren, sondern auch in der Community der Neuankömmlinge, wo Angehörige unterschiedlicher Ethnien und Religionen einander in ihren Unterkünften drangsalieren. Notwendig ist Mediation, notwendig ist demokratisch aufklärende Sozialarbeit auf gesellschaftlicher Mikro- wie Makroebene. Transparent zu vermitteln, wie wir das schaffen, warum wir als Gesellschaft es überhaupt schaffen wollen, eine größere Gruppe an Neuankömmlingen zu integrieren, darauf kommt es jetzt an.

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