zum Hauptinhalt
Demütigungen ohne Ende. Immer wieder wurde Natascha Kampusch von der Polizei verhört, als wäre sie die Angeklagte.

© picture alliance / dpa

Entführungsopfer: Natascha Kampusch: Gefangene der Öffentlichkeit

Schlampereien, Vertuschungen: Sechs Jahre nach Natascha Kampuschs Befreiung ist der Fall so rätselhaft wie am Anfang. Sie hat nur einen Wunsch: Endlich in Ruhe gelassen zu werden. Die Geschichte eines Opfers, das nicht aufhören darf, eines zu sein.

Natascha Kampusch ist jetzt ein Fall für das FBI. Ermittler aus Amerika sind nach Wien gekommen, sie trafen österreichische Staatsanwälte und Polizisten. Wälzten die 270 000 Aktenseiten, die sich angehäuft haben, seit Kampusch als Zehnjährige entführt und in ein Kellerverlies gesperrt worden war. Und sie stellen die Fragen, die sich viele stellen. War der Täter Wolfgang P. allein, oder half ihm jemand? Warum verschwand der Hinweis auf P., den ein Polizeihundeführer kurz nach der Tat lieferte? Was ist mit dem Freund, den P. am Tag von Kampuschs Flucht im August 2006 traf? In einem Einkaufszentrum, Stunden, bevor P. sich vor einen Zug warf. Als die Polizisten mit dem Mann reden wollten, fragte er: „Hat er sie umgebracht?“

Die Leute vom FBI sagen nicht viel. Außer, dass geschlampt wurde an jenem 2. März 1998, als Kampusch auf dem Weg zur Grundschule in einen weißen Kastenwagen gezerrt wurde. Man habe die Autotype nicht genau analysiert, ein „unprofessionelles Vorgehen“. Hätten sich die Polizisten eingehender damit beschäftigt, wären sie auf P. gekommen. Hätten sich nicht von ihm abwimmeln lassen, als sie, Wochen nach der Tat, bei einer Routineüberprüfung vor seinem Haus standen. Später prahlte P. seinem Freund gegenüber, dass Polizisten „Stocktrotteln“ seien, denen man „alles erzählen“ könne. Hätte, wäre, 14 Jahre ist das her. Die FBI-Leute arbeiten für die Abteilung Cold Cases, die erkalteten Fälle.

Sechs Jahre, nachdem Kampusch sich befreien konnte, ist der Fall alles andere als erkaltet. Bis heute beschäftigen sich Justiz und Politik in Österreich mit Kampusch. Und bis heute muss sich Natascha Kampusch rechtfertigen. Dafür, dass sie sich zum 18. Geburtstag von P. eine Torte schenken ließ und eine Flasche Baileys. Dass sie nicht weglief, als P. sie in einen Baumarkt mitnahm oder zum Skilaufen ins Voralpenland.

Gerade war sie wieder im Fernsehen. In einer Sondersendung von Aktenzeichen XY, es ging um verschwundene Kinder. Kampusch trug ein gemustertes Kleid und eine Perlenkette. Die langen blonden Haare hingen ins Gesicht, als wollte sie sich dahinter verstecken. Sie sagte, dass sie ihren Hauptschulabschluss gemacht habe und Goldschmiedin werden wolle. Dass sie manchmal denke, noch immer im zwei mal drei Meter großen Keller zu sein. Erst gerade wieder, als es kalt wurde. Wie es ihr gehe, fragte der Moderator. „Das ist nicht so einfach, aber ich versuche es“, sagte Kampusch. Sie sprach leise und stockend, in ihrem neuen Leben scheint nichts einfach zu sein. Ihre Ausbildung musste sie unterbrechen.

24 ist Natascha Kampusch heute, und sie hat alles gesagt. Über den „Täter“, wie sie P. nur nennt. Über den Hunger und die schwere körperliche Arbeit, die sie für ihn verrichten musste, über die Misshandlungen. P. schlug sie mit allem, was er finden konnte. Überlebt habe sie, weil sie fähig gewesen sei, „im Bösen“ eine gewisse Normalität zu erkennen, „ja sogar gegenseitiges Verständnis“. „Indem ich ihn als Mensch sah, mit einer sehr dunklen und einer etwas helleren Seite, konnte ich selbst Mensch bleiben.“

Aber gibt es nicht Ungereimtheiten? Was ist etwa mit dem zweiten Mann?

Kampusch hat dies in zahlreichen Polizeiverhören gesagt und in einem Buch. Es heißt „3096 Tage“, die Zeit, die sie im schalldichten Keller von P.s Haus zubrachte. Das Haus gehört jetzt ihr, es steht leer. Die Verfilmung kommt 2013 in die Kinos, nach einem unvollendeten Drehbuch des verstorbenen Produzenten Bernd Eichinger. Einen Trailer gibt es schon, mit dramatischer Filmmusik und schnellen Schnitten. Ein Mädchen, dessen Hände mit Kabelbindern gefesselt sind. Eine junge Frau, die sich mit nackten Füßen durch Gras tastet, wie Kampusch es manchmal durfte, nachts, im Garten des Entführers. „Die Entführung war nur der Anfang“, heißt es im Trailer.

Das kann Gerald Ganzger nur bestätigen. Ganzger ist Kampuschs Anwalt. Er empfängt in seinem Büro in der Wiener Innenstadt, hoch über den Dächern. 40 Juristen arbeiten hier, es geht geschäftig zu wie in einer amerikanischen Anwaltskanzlei. Ganzger zählt auf, wer schon alles versucht hat, den Fall Kampusch zu lösen. Zwei parlamentarische Untersuchungssausschüsse, eine Evaluierungskommission. Die Staatsanwaltschaften Graz und Innsbruck. 2012 wurden schließlich das FBI und das deutsche Bundeskriminalamt geholt. Die Leute, „die ihre 15 Minuten Ruhm wollen“, sind da noch nicht mit eingerechnet. Der Polizist etwa, der Anfang 2012 in einer Schule auf eigene Faust DNA-Proben von einem Mädchen nahm. Weil er wissen wollte, ob Kampusch nicht vielleicht ein Kind habe. „Als Kampusch auftauchte, dachten wir: Das geht nach acht Wochen vorbei. Jetzt sind es sechs Jahre.“

Aber gibt es nicht Ungereimtheiten? Was ist etwa mit dem zweiten Mann? Ein zwölfjähriges Mädchen, das 1998 mitansah, wie Kampusch entführt wurde, sprach immer von zwei Männern in dem weißen Kastenwagen. Es gebe keinen Hinweis auf einen Mittäter, sagt Ganzger. „Die Zeugin hat sich geirrt, und das ist nichts Ehrenrühriges.“ Und was ist mit P.s Freund? Ernst H. hat P. und Kampusch immer wieder zusammen gesehen, er hat die Geburtstagstorte für Kampusch besorgt. Hat er etwas damit zu tun? Haben andere damit zu tun, ein Pädophilenring, die Sado-Maso-Szene, wie oft spekuliert wird? Verschwörungstheorien, sagt Ganzger. „Man wird nie feststellen, ob H. Mitwisser war.“ H. selbst bestreitet alles. Kampusch hat ihn nie belastet.

Ganzger sagt, die Politik habe den Fall instrumentalisiert. „Jeder Hinterbänkler, der etwas zu Natascha Kampusch gegrunzt hat, stand sofort im Scheinwerferlicht.“ Zudem gab es Reformen in der Justiz, die nicht allen passten, „da hat jeder sein Süppchen gekocht“. Einmal ermittelten sogar Staatsanwälte gegen andere Staatsanwälte, wegen Amtsmissbrauchs. Heraus kam dabei nichts, nur ein weiterer Bericht. 305 Seiten lang, online nachzulesen. Jedes Detail steht darin. Dass Kampusch einen Euro Taschengeld von P. bekam und manchmal Micky-Maus-Hefte. Dass sie mit zwölf im Keller einen Roman schreiben wollte. Dass sie mit P. um Essen stritt, bevor sie durch den Garten flüchtete. Hin und wieder finden sich zwei, drei Zeilen voller „X“. An Stellen, an denen es um Kampuschs Körper, ihre Sexualität geht. Die paar „X“ sind das Letzte, was Kampusch an Privatheit geblieben ist.

„Der Fall ist ausermittelt bis zum Erbrechen“, sagt Ganzger. Er spricht langsam, als würde er ein Plädoyer zum Mitschreiben halten. Man solle Kampusch in Ruhe lassen, sie wolle endlich ihr Leben leben. Zumal die eigentlichen Verfehlungen folgenlos blieben. Der verschwundene Hinweis des Polizeihundeführers etwa. Der Polizist hatte im April 1998, Wochen nach Kampuschs Verschwinden, einen anonymen Anruf erhalten, mit genauen Angaben zu P. und dessen „Hang zu Kindern in Bezug auf seine Sexualität“. Doch der Spur wurde nie nachgegangen. Warum nicht, ist bis heute ungeklärt. Die Sache wurde später vom zuständigen Ministerium vertuscht.

Verschwörungstheorie kursieren noch immer, schlampige Ermittlungen sind vergessen

Anders als die Verschwörungstheorien seien die Schlampereien „ganz schnell abgehandelt“ worden, sagt Ganzger. „Und die Vertuschungen waren fast nie Thema.“ Der Hinweis hätte Kampusch wohl acht Jahre Martyrium erspart. Hätte, wäre. Der Bericht des FBI soll Ende des Jahres fertig sein. Dann werden sich die Behörden ein weiteres Mal Natascha Kampusch zuwenden. Einem Opfer, das nicht aufhören darf, eines zu sein.

Dazu kommt der Hass, der Kampusch in Österreich entgegenschlägt. Ein Blick auf die Webseite der seriösen Tageszeitung „Der Standard“. Im Vermischten ein kurzer Artikel über Kampusch. Darin dementiert Kampusch, dass es einen Pädophilenring gegeben habe. Sagt, wie demütigend es sei, sich immerzu rechtfertigen zu müssen. Für Mittäter, für Schwangerschaften, die es nie gab. Darunter 547 Leserkommentare. „Die soll endlich den Mund halten“, ist einer der netteren. Und dann war da noch der Präsident des österreichischen Verfassungsgerichtshofes, ein honoriger Jurist. Anspielend auf die einfachen Verhältnisse, aus denen Kampusch stammt, sagte er, dass die Gefangenschaft für Kampusch wohl „allemal besser war als das, was sie davor erlebt hat“.

Warum ist das so? Frage an eine, die Kampusch sehr nahe gekommen ist. Die Journalistin Corinna Milborn hat mit Kampusch „3096 Tage“ geschrieben. Neun Monate lang saß sie 2009 und 2010 mit Kampusch zusammen, befragte sie, notierte, dazwischen kochten sie oder sahen Trickfilme an. Kampusch sei es schwer gefallen zu reden, sagt Milborn, vor allem über die Gewalt, die Demütigungen, die Alltäglichkeit des Bösen. Eine Therapie hat Kampusch bislang nicht gemacht. Milborn ist eine blonde Frau, die zugleich empfindsam und zupackend wirkt, an Kampusch kam sie über den Verlag. Milborn schlägt als Treffpunkt ein schickes Café im Wiener Museumsquartier vor. Als wolle sie dem Schrecken zumindest ein schönes Ambiente entgegensetzen.

Milborn glaubt, dass sich viele von Kampusch provoziert fühlten. Weil sie sich nicht wie ein typisches Opfer benehme, tapfer sei, ihr Leben in die Hand genommen habe. Das sei kein österreichisches Phänomen. Sabine Dardenne, die als Zwölfjährige in Belgien von Marc Dutroux entführt worden war und eines von zwei überlebenden Opfern war, erging es ähnlich.

Corinna Milborn spricht von der „Hypothese der gerechten Welt“, eine Theorie aus den 60er Jahren. Sie besagt, dass Menschen das Bedürfnis haben anzunehmen, sie lebten in einer Welt, in der jeder das bekommt, was er verdient. Ein Opfer muss demnach also an seinem Leiden ebenfalls selbst schuld sein.

Immer wieder sei Kampusch in den neun Monaten ihrer Zusammenarbeit von der Polizei einvernommen worden. „Auf eine ungute Art, als wäre sie die Angeklagte.“ Dazu komme, dass Kampusch von Beratern umgeben war, „die sie vermarkteten wie Daniela Katzenberger“. Kampusch hatte zeitweise eine eigene Talkshow, traf Veronica Ferres, lief bei den Salzburger Festspielen über den roten Teppich.

Ein blondes Mädchen tritt an unseren Tisch. Corinna Milborns Tochter, sie will von ihrer Mutter Geld für Turnschuhe. Milborn drückt sie kurz an sich. Wie Eltern ihre Kinder drücken, wenn sie an all die Katastrophen denken, die Kindern passieren können. Acht Jahre lang war Natascha Kampusch die Gefangene eines Entführers. Seit sechs Jahren ist sie nun Gefangene der Öffentlichkeit.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false