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Afar-Nomaden im Nordosten Äthiopiens.

© Benjamin Breitegger

Entwicklungshilfe in Äthiopien: Seit 30 Jahren: Eine Australierin fördert die Afar-Nomaden

Nomaden zwingen, sesshaft zu werden? „Bullshit“, sagt Valerie Browning. Sie hilft sie dem Volk der Afar zu bleiben, wie es ist – und klüger zu werden.

Als Valerie Browning in einem Dorf im Distrikt Bidu im Nordosten Äthiopiens eintrifft, nach acht Stunden Jeepfahrt über Pisten und ausgetrockneten Wüstenboden, bereiten zwei Männer gerade ein Begräbnis vor. Browning hat sich auf den Weg gemacht, weil sie gehört hatte, dass die Wasserquelle versickere. Doch an diesem Morgen hat eine junge Frau namens Aisha eine Totgeburt erlitten. In einer Hütte entfalten zwei Männer ein weißes Leichentuch. Sie nehmen Maß, kürzen das Tuch mit einer Rasierklinge. Die Dorfältesten begrüßen Browning, die weiße Besucherin, die ihre Sprache spricht: Afar.

Seit knapp 30 Jahren lebt die 68-jährige Browning in der Afar-Region im Nordosten Äthiopiens. Tiefe Furchen ziehen sich durch ihr sonnengegerbtes Gesicht, und wenn sie lacht, sind ihre Zahnlücken zu sehen. Die gebürtige Australierin und gläubige Christin ist mit Ismail Ali Gardo, einem Muslim vom Volk der Afar verheiratet. Ihr gemeinsames Ziel: das Überleben der Afar und ihrer Lebensweise sichern. Dafür haben sie 1993 die Hilfsorganisation Apda gegründet, die „Afar Pastoralist Development Association“.

Nach Jahrzehnten, in denen Valerie Browning dafür geworben hat, dass die Afar Hilfe bekommen, ohne ihr Nomadentum aufgeben zu müssen, scheint nun erstmals auch die äthiopische Regierung zu erkennen, dass Brownings Weg der Hilfe richtig sein könnte. Es wird der Versuch unternommen, Nomaden zu verstehen – statt sie zwanghaft ansiedeln zu wollen. Äthiopien beginnt, sich zu wandeln.

Grund dafür ist Abiy Ahmed, der neue, junge Premierminister, seit diesem Frühjahr im Amt. Er schloss Frieden mit dem benachbarten Eritrea und will, dass die ewig andauernden Konflikte in seinem eigenen Land gelöst werden. Mehrmals traf er sich mit führenden Afar-Männern, um zu diskutieren. Abiy Ahmed unterscheidet sich auch in seiner Herkunft von bisherigen Staatschefs. Sein Vater war Oromo und damit Teil einer lange marginalisierten Volksgruppe, wie die Afar. Seine Mutter gehörte den Amharen an. Abiy Ahmed, der mehrere Sprachen spricht, verkörpert das multikulturelle Äthiopien.

Rund 1,6 Millionen Afar leben derzeit in Äthiopien, Hunderttausende in den angrenzenden Staaten Eritrea und Dschibuti. Traditionell ziehen sie mit Rindern, Kamelen und Ziegen von Weidegrund zu Weidegrund, leben von der Milch ihrer Tiere, selbst gebackenem Brot und dem Handel mit Tieren und Salz.

Ihre Organisation ist eine Nomaden-NGO

Seit jeher wissen die Afar sich an ihre raue Lebensumgebung anzupassen. Doch zunehmend fällt es ihnen schwer. Der Klimawandel macht Dürren extremer und Stürme heftiger. Die äthiopische Regierung versucht sich in Landwirtschaft am zentralen Awash-Fluss und nimmt damit den Nomaden wichtige Weideflächen weg. Browning beobachtet, wie die Tiere der Nomaden, ihr Kapital, verenden und wie Menschen einfachen Krankheiten erliegen, weil es in der Wüste keine medizinische Hilfe gibt. „Der Gemeinschaft geht es von Jahr zu Jahr schlechter“, sagt sie. Sie kämpft dagegen an – mit mobilen Bildungsangeboten für die Afar. Die meisten sind Analphabeten, auch fehlt medizinisches Wissen.

Valerie Browning lebt bereits so lange unter den Afar – vielleicht kennt niemand, der nicht diesem Volk angehört, dessen Bedürfnisse so gut wie sie. Tatsächlich kann sich Browning, eine zarte, kleine Person, keinen schöneren Ort als diese Wüste vorstellen, mit Höchsttemperaturen von mehr als 50 Grad Celsius.

Die bisherige Strategie der Regierung? Nomaden zu zwingen, sesshaft zu werden. „Bullshit“, sagt Valerie Browning und schaut verächtlich. Einige wenige siedelten freiwillig, aber viele seien verloren in den slumartigen Städten. Browning ist angewidert von der Arroganz und Bequemlichkeit vieler Beamter, die sie davon abhalte, ihre klimatisierten Büros zu verlassen, um die abgelegenen Siedlungen in der Wüste zu besuchen. Um einmal das zu tun, was Browning macht: „Wir gehen von Haus zu Haus, dorthin, wo die Regierung nicht hingeht.“

Ihre Organisation Apda ist eine Nomaden-NGO: Einheimische Afar, die mit ihren Clans mitziehen, arbeiten als Lehrer und Gesundheitshelferinnen. Sie lernen Lesen und Schreiben, dann lehren sie es. Afar erklären anderen, wie man Seife benützt und warum, was HIV ist und wie man sich schützt. Frauen verkaufen Moskitonetze und klären über den anhaltenden Brauch der weiblichen Genitalverstümmelung auf. Weil häufig – auch aufgrund dessen – Geburtskomplikationen vorkommen, hat Valerie Browning die erste Geburtsklinik der Region bauen lassen. Wasserzisternen an geeigneten Orten in der Wüste verhindern, dass Regenwasser schnell versickert. In Extremsituationen fahren Lkw mit Wassertanks in entlegene Orte, oder Apda versorgt arme Familien mit Ziegen.

Gehalt will sie keines

Aus ihrem Büro in der Provinzhauptstadt Semera koordiniert Valerie Browning 800 lokale Mitarbeiter. Sie schreibt Projektanträge, die sie an westliche Hilfsorganisationen schickt, denn die haben das nötige Geld, um in dieser abgeschiedenen Region etwas zu bewegen. Sie streitet mit ihnen, wenn die Geldgeber besser zu wissen glauben, in was genau investiert werden soll. Wenn sie optimistische Dreijahresziele festsetzen, mit denen sie wiederum ihre eigenen Geldgeber überzeugt haben – dass eine Gemeinschaft Schulbesuche als Teil des täglichen Lebens annimmt beispielsweise, die aber, das weiß Browning nach 30 Jahren hier, einfach nicht in dieser Zeit zu erfüllen sind. Sie lehnt Projekte ab, wenn in Budgetvorschlägen keine Transportkosten enthalten sind, weil in der Wüste ohne Allrad gar nichts geht. Browning braucht die westlichen Spenden, auch wenn ihr Unabhängigkeit lieber wäre.

Leben und Arbeit, bei Valerie Browning vermischt sich beides. Gehalt will sie keines, sagt sie. Nicht, dass sie jemand der Korruption beschuldigt. Besitz ist ihr nicht wichtig, sie hat ein paar Kleider und Flip-Flops. Wenn sie Geld braucht, fragt sie ihren Mann, der Gehalt bezieht. Ihr Zuhause ist ein funktionaler Betonbau in Logia, einer Stadt zehn Busminuten von Semera entfernt. Dort wohnt sie mit ihrem Mann in einem Zimmer, in den übrigen Räumen leben Frauen, die sie mal um Hilfe baten. Valerie Browning hasst die Stadt, aber sie muss hier leben, hier sind die Regierungsbüros, die ihre Arbeit genehmigen.

Aus ihrem Büro in der Provinzhauptstadt Semera koordiniert Valerie Browning 800 lokale Mitarbeiter.
Aus ihrem Büro in der Provinzhauptstadt Semera koordiniert Valerie Browning 800 lokale Mitarbeiter.

© Benjamin Breitegger

In dem kleinen Dorf in Bidu flirrt die Luft bei 43 Grad. Etwa 50 Familien haben Hütten gebaut, zu Halbkugeln zusammengesteckte Äste, bedeckt mit Strohmatten und Planen. Wenn sie weiterziehen, verladen sie die Materialien wieder auf ihre Kamele. Zu dem Dorf führt keine Straße, es gibt keinen Strom, keine Toiletten, keinen Handyempfang. Die Menschen hier erhalten manchmal staatliche Nahrungsmittelhilfe, wie ein Drittel der äthiopischen Afar. Sie müssen das Getreide dann von der Asphaltstraße abholen, doch die ist drei Tage und Nächte Marsch entfernt. Immerhin: Die Wasserstelle ist nahe, nur eine halbe Stunde Fußmarsch.

Browning steht auf und geht zur Hütte von Aisha, der Mutter des toten Kindes. In der Afar-Region stirbt eines von acht Kindern vor seinem fünften Lebensjahr, viele im ersten Monat, unter anderem wegen Mangelversorgung. Als Browning zurückkommt, schaut sie besorgt. Aishas Plazenta befinde sich nach wie vor in der Gebärmutter, sagt sie. Sollte sie nicht als normale Nachgeburt ausgestoßen werden, könnte Aisha verbluten. Die nächste Gesundheitsstation ist Stunden mit dem Jeep entfernt. Das nächste Krankenhaus eine Tagesreise. Browning massiert Aishas Bauch, sie hofft, dass die junge Frau dann die Plazenta ausstößt.

"Bildung, Bildung, Bildung" - das ist ihr Motto

Traditionell ist bei den Afar eine Geburtshelferin anwesend, doch auch die Frau, die Aisha durch die Geburt begleitete, hat nie eine medizinische Unterweisung erhalten. Niemand hat ihr je erklärt, was in Notfällen wie diesem zu tun ist. „Deswegen: Bildung, Bildung, Bildung“, sagt Browning.

Valerie Browning wird in England geboren, als fünftes von acht Kindern wächst sie auf einem Bauernhof auf. In ihrer Biografie „Maalika – My life among the Afar nomads of Africa“ beschreibt sie ihre Mutter als liebevoll, den Vater als gefühlsarm. Als Valerie zehn ist, wandert die Familie nach Australien aus. Nach der Schule will sie Medizin studieren, doch das Geld reicht nicht. Der Vater entscheidet, dass die Krankenpflegeschule genug sein müsse. 1973, Browning ist 22 Jahre alt, sterben in Äthiopien Zehntausende während einer Hungersnot. Ein Freund schreibt die Namen von Browning und einer Studienfreundin auf eine Liste mit möglichen freiwilligen Helfern – ohne sie zu fragen. Als Browning davon erfährt, wird sie wütend. Aber sie will die Freundin nicht alleine lassen.

Eine Missionsgesellschaft in Sydney hatte ihnen versprochen, sie könnten mit einem medizinischen Team in einem Krankenhaus oder auf dem Land arbeiten. In Äthiopien wird klar: Sie sind das medizinische Team. Der Einsatz in der Afar-Wüste beeindruckt Browning: die Großzügigkeit, mit der die Menschen sie willkommen heißen; die Tänze der stolzen Männer; die schmalen, eleganten Frauen in ihren langen Kleidern.

Als 1974 eine Militärjunta den äthiopischen Kaiser Haile Selassie stürzt, fliegen Browning und ihre Studienkollegin zurück nach Australien. In den nächsten Jahren kommt die Krankenschwester Browning immer wieder nach Ostafrika, um in einem eritreischen Flüchtlingscamp im Sudan zu arbeiten, in Somalia und Dschibuti. Als sie eines Tages krank wird, hilft ihr Ismail Ali Gardo, ein Afar, den sie auf der Straße kennenlernt. Zwei Jahre später sieht sie ihn wieder und er sagt bald: Lass uns heiraten.

Sie mag ihn, er ist attraktiv, verständnisvoll, gutmütig, spricht mehrere Sprachen. Doch da ist ein großes Andererseits: Sie ist Christin, er Muslim. Sie würde nicht konvertieren und keine zweite Frau tolerieren. Er hat kein Problem damit. Einen Monat nach dem Antrag sagt sie Ja. Valerie und Ismail heiraten in Dschibuti, sein Cousin kauft den Ring, weil Ismail nicht genug Geld hat.

Immer wieder zweifelt sie und betet

In Dschibuti muss Valerie Browning auch die Sprache der Afar lernen. Sie muss lernen damit umzugehen, dass Afar-Männer in der Öffentlichkeit keine Zuneigung zeigen, muss lernen, dass aller Besitz geteilt wird. Es wird der Australierin bald zu viel. Als sie schon alles hinschmeißen will, sagt er: Ich denke, wir sollten es noch ein bisschen länger versuchen. Ein paar Wochen später entdeckt sie, dass sie schwanger ist. Die Geburt ist kompliziert, das Baby wiegt nur zwei Kilogramm, atmet erst, nachdem der Arzt es intubiert hat. Mutter und Tochter überleben. Die Tochter ist heute 27 Jahre alt und lebt in Australien.

Browning zweifelt damals immer wieder, sie betet und lernt, die eigenen Bedürfnisse für die Gemeinschaft zurückzustecken. Das Paar bleibt zusammen und adoptiert später zwei weitere Kinder. „Hätte ich Ismail nicht geheiratet, hätte mein Leben wahrscheinlich eine andere Richtung eingeschlagen“, sagt Browning.

In dem Dorf in Bidu versucht Browning erfolglos weiter, der jungen Frau zu helfen. Sie entschließt sich, Aisha auf die Rückbank ihres Jeeps zu legen, um sie in die Krankenstation an der Asphaltstraße mitzunehmen. Aisha legt den Kopf in den Schoss ihrer Mutter, sie schwitzt, kann sich kaum bewegen. Das Auto rumpelt los. Zwei Stunden lang geht es entlang alter Reifenspuren. Dann, in einer Kurve, bleibt der Fahrer stehen. Browning stützt Aisha, die hinter den Wagen tritt. Ihr Körper wird die Plazenta von alleine ausstoßen. Browning atmet auf.

Es waren Afar, die Valerie Browning den Namen „Maalika“ gegeben haben, Arabisch für Königin. Dabei ist die Königin nicht besonders diplomatisch: Valerie Browning flucht leidenschaftlich. Manchmal drehen sich ihre eigenen Mitarbeiter verschämt weg. Sie belehrt jeden Afar, den sie mit Zigarette erwischt, die amüsieren sich meist über die verrückte alte Frau. In ihrer Kritik an anderen Hilfsorganisationen differenziert sie wenig, selbst wenn diese ähnliche Ziele verfolgen oder sie finanzieren. Manche Organisationen verlassen nach Abschluss ihrer Projekte die Region. Sie ist geblieben.

Benjamin Breitegger

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