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Update

Erdogan lässt Gezi-Park räumen: "Das ist Krieg gegen die Menschen"

Tränengas, Wasserwerfer und offenbar hunderte Verletzte: Mit einem massiven Polizeieinsatz hat der türkische Premier Erdogan den besetzten Gezi-Park in Istanbul räumen lassen. Grünen-Chefin Claudia Roth spricht vor Ort von kriegsähnlichen Zuständen.

Rund zwei Wochen nach Beginn der regierungsfeindlichen Unruhen in der Türkei hat die Polizei am Samstagabend das Zeltlager der Demonstranten im Istanbuler Gezi-Park gestürmt und damit das Epizentrum der Protestbewegung eingenommen. Mehrere hundert Polizisten rückten mit Tränengas und Wasserwerfern in den Park ein. Die Gruppe „Taksim Solidarität“ erklärte, die Demonstranten, die den Park seit Wochen besetzt gehalten hatten, hätten sich zurückgezogen. Hunderte Demonstranten seien bei der Aktion verletzt worden, hieß es von den Aktivisten.

Weniger als eine Stunde nach Beginn des Polizei-Angriffs begannen Trupps der Istanbuler Stadtverwaltung damit, das Zeltlager der Demonstranten mit Baufahrzeugen abzureißen. Aus der Umgebung des Parks wurden Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstranten gemeldet.

Claudia Roth kritisiert Polizeigewalt in Istanbul

Grünen-Chefin Claudia Roth warf der türkischen Regierung vor, bei der gewaltsamen Räumung des Parks „Krieg gegen die Menschen“ geführt zu haben. Roth war am Samstagabend Zeugin der Polizeiaktion. „Ich habe ja schon viel erlebt an Abräumaktionen“, sagte sie anschließend dem Tagesspiegel in Istanbul. „Aber das hier macht einen sprachlos.“ Polizisten hätten mit Tränengasgewehren gezielt auf Demonstranten geschossen.

Roth brachte sich nach der Räumung des Parks zusammen mit Dutzenden Demonstranten in einem Hotel am Rande des Gezi-Parks in Sicherheit. Doch auch im Innern des Hotels sei das Tränengas sehr dicht gewesen. „Es war echt schlimm, ich habe keine Luft mehr bekommen“, sagte sie. „Das ist Krieg gegen die Menschen hier, das ist Krieg gegen alles, was Demokratie heißt.“ Europa dürfe sich aber nicht von der Türkei abwenden. Das Land sei mehr als die Erdogan-Regierung und werde durch die friedlichen Demonstranten im Park repräsentiert. Mit einem Nein zur Türkei würde Europa „diese Leute im Stich lassen“.

Wenige Stunden von dem Sturm auf das Lager hatte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan die Demonstranten erneut aufgerufen, ihre Besetzung aufzugeben. Der Premier hatte am Freitag erklärt, im Gegenzug für eine Aufhebung des Zeltlagers werde er auf ein Bauprojekt der Regierung auf dem Gelände des Parks verzichten, gegen das sich der ursprüngliche Widerstand der Demonstranten gerichtet hatte. „Taksim Solidarität“ hatte dies aber abgelehnt und erklärt, der Protest gegen die Regierung gehe weiter. Seit Ausbruch der Unruhen sind fünf Menschen getötet und mehr als 7000 verletzt worden.

Der Polizei-Angriff auf das Zeltlager der Demonstranten begann nach einer Warnung aus Polizei-Lautsprechern, in der die Besetzung des Parks als illegal bezeichnet wurde. „Reicht es immer noch nicht?“ hieß es in der Durchsage. Anschließend begann die Attacke. „Taksim Solidarität“ erklärte, bei dem Angriff seien sehr viel Tränengas und Wasserwerfer eingesetzt worden. Zufahrtstraßen zu dem Park und zum benachbarten Taksim-Platz wurden abgesperrt.

Unterstützer der Demonstranten erklärten, sie brauchten Medikamente und Sauerstoff zur Versorgung der Verletzten in einem Hotel nahe des Gezi-Parks. Laut „Taksim Solidarität“ wurden auch die behelfsmäßigen Krankenstationen der Demonstranten im Park mit Tränengas angegriffen. Der angesehen türkische Journalist Can Dündar kritisierte, selbst Kinder in dem Park seien vom Tränengas der Polizei in Mitleidenschaft gezogen worden. Der Kommentator Orhan Kemal Cengiz sagte voraus, nach den Vorgängen in Istanbul werde die Mitgliedschaft der Türkei im Europarat in Frage gestellt werden.

Der Angriff bildete den vorläufigen Höhepunkt der schwersten Unruhen in der Türkei seit Erdogans Regierungsantritt vor zehn Jahren. Der Premier, der die Demonstranten in den vergangenen Wochen zeitweise als „Plünderer“ beschimpfte, hatte sich zuletzt kompromissbereit gezeigt. Die Zurückweisung seines jüngsten Angebots durch die Demonstranten löste offenbar den erneuten Polizei-Einsatz aus. Für diesen Sonntag rief „Taksim Solidarität“ zu einer Protestkundgebung auf.

Nach einer Umfrage hat Erdogans harte Haltung der AKP in der Wählergunst nicht geschadet. Bei Wahlen käme die AKP demnach derzeit auf 51 Prozent und läge damit noch über dem Ergebnis der letzten Wahl von 2011, als sie knapp 50 Prozent der Stimmen erreichte. Mehr als die Hälfte der türkischen Wähler lehnen nach der Umfrage die Gezi-Proteste ab.

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