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Tausende Flüchtlinge drängen sich an der türkisch-griechischen Grenze.

© Bulent Kilic,AFP

Erdogan öffnet die Grenzen für Flüchtlinge: Warum die Lage nicht so unkontrollierbar wie 2015 wird

Wieder drängen Tausende Flüchtlinge aus der Türkei Richtung EU. Doch diesmal ist vieles anders. Die wichtigsten Fragen und Antworten zur neuen Flüchtlingskrise.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat das Agieren des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan im Streit um europäische Unterstützung beim Umgang mit neuen syrischen Flüchtlingen scharf kritisiert. Sie verstehe, dass die Türkei mit Blick auf die Massenflucht aus der umkämpften Stadt Idlib vor einer sehr großen Aufgabe stehe, sagte Merkel am Montag in Berlin. Sie verstehe auch, dass sich Erdogan dabei mehr von Europa erwarte. Es sei aber „inakzeptabel“, dies auf dem Rücken der Flüchtlinge auszutragen.

Wird die Lage wieder so unkontrollierbar wie 2015?

Vieles ist 2020 anders als vor fünf Jahren. Erstens kommt die Krise nicht unerwartet. Deutschland und Europa haben Erfahrungen gesammelt und Lehren daraus gezogen. Zu denen gehört, dass sich 2015 nicht wiederholen darf.

Zweitens reagiert Griechenland, das derzeit entscheidende Land an der Außengrenze der EU, heute anders. Das gilt ebenso für die Transitländer auf dem Weg nach Deutschland. Damals versuchten Italien, Griechenland und andere Staaten erst gar nicht, die Flüchtlinge aufzuhalten.

Sie ließen sie ins Land und wiesen ihnen den Weg nach Norden mit der Begründung: Die wollen doch eh alle nach Deutschland und Deutschland will sie aufnehmen. Heute bemüht sich Griechenland unter der neuen konservativen Regierung, die Außengrenze der EU zu sichern. Es setzt Stacheldraht und Tränengas ein. Das sind hässliche Bilder, aber sie entfalten Wirkung und wirken auch auf Migranten abschreckend. Zudem hat Athen die EU um Hilfe gebeten. Frontex unterstützt den Grenzschutz.

Drittens hat die Bundesregierung aus 2015 gelernt. Angela Merkel wird die Flüchtlinge kein zweites Mal nach Deutschland einladen. Das würden weder die deutschen Bürger mitmachen noch die EU-Partner.

Selbst wenn sie die Regierungen in Österreich und den Balkanstaaten anriefe und bitten würde, die Menschen durchzulassen, würden Kanzler Sebastian Kurz und Kollegen da wohl nicht mitmachen. Deutschland kann Europa die Flüchtlingspolitik nicht mehr vorgeben. Auch das hat sich geändert.

Was tun die EU-Grenzschützer von Frontex?

Griechenland hat bei der EU-Grenzschutz-Agentur Frontex, die bereits mit 600 Beamten, Schiffen und Flugzeugen in der Ägäis vor Ort ist, um zusätzliche Unterstützung gebeten. Bisher hilft Frontex bei der Grenzsicherung, der Seenotrettung sowie der Registrierung von Flüchtlingen.

Frontex verfügt bisher insgesamt über 1500 Mitarbeiter, die die EU-Mitgliedstaaten stellen, und hat einen Etat von zuletzt 330 Millionen Euro im Jahr. In Zukunft soll Frontex bis zu 10.000 Beamte haben. Auch die Kompetenzen sollen ausgeweitet werden. Frontex-Beamte sollen dann nicht nur Hilfsdienste ausüben, sondern ein robustes Mandat bei der Grenzsicherung bekommen.

Doch dafür fehlt es aber an der Finanzierung durch die Mitgliedstaaten, außerdem wollen etliche Mitgliedstaaten nicht Kompetenzen an die EU-Agentur abgeben.

Wer sind die Flüchtlinge?

Aktuell sind nach Erkenntnissen von Experten nur 15 bis 20 Prozent derer, die noch nach Europa kommen, Syrer. Der Großteil der Menschen kommt aus Afghanistan. Afghanen haben in der Türkei kaum Schutz und sind von Abschiebung bedroht.

Von den syrischen Flüchtlingen in der Türkei sind nur noch wenige finanziell in der Lage, den Weg nach Europa anzutreten, oder sie haben auch Gründe, eine prekäre Existenz in der Türkei, nahe der Heimat, den Verhältnissen auf den griechischen Inseln vorzuziehen.

Franck Düvell, Forscher am am Berliner Dezim-Institut, der ihre Motive kürzlich erforscht hat, spricht von einer Inszenierung Erdogans, der medienwirksame Bilder habe schaffen wollen und in Istanbul einen kleinen Teil der geschätzt 650000 Flüchtlinge der Stadt in Busse setzen ließ: „Ein zweites 2015 wird es nicht geben“, sagt Düvell. „Aktuell stehen etwa 13.000 Menschen an der Grenze zu Griechenland und Bulgarien.“

Griechische Grenztruppen feuern Tränengas.
Griechische Grenztruppen feuern Tränengas.

© Giannis Papanikos, dpa

Was will der türkische Präsident Erdogan?

Erdogan ist verärgert, weil ihm die Nato die militärische Rückendeckung für das Eingreifen der türkischen Armee in Nordsyrien verweigert hat. Warum er deswegen das Abkommen mit der EU gefährdet, das ist sein Geheimnis.

Schon länger hat er im Zusammenhang mit dem EU-Abkommen Forderungen an Brüssel gestellt: Zum einen fordert er mehr Geld von der EU für die Unterbringung und Integration der Migranten in der Türkei. Er will, dass die EU-Gelder direkt in seinen Haushalt fließen und nicht wie jetzt über Hilfsorganisationen an die Flüchtlinge vor Ort gehen.

Er bemängelt, dass die EU ihre Zusagen nicht gehalten habe: Er mahnt die Abschaffung der Visa-Pflicht für Türken an sowie weitere Schritte Richtung Zollunion. Richtig ist allerdings, dass die EU dies nie versprochen, wohl aber eine Prüfung zugesagt hat.

Welche Rolle spielt die türkische Offensive um Idlib in Erdogans Strategie?

Erdogan hatte vor einem Monat die türkische Armee über die Grenze nach Idlib geschickt, um den Vormarsch von Regierungstruppen in der letzten Bastion syrischer Rebellen zu stoppen. Ankara will mehr als westliche Flugabwehrsysteme, die an der türkischen Grenze zu Idlib die türkischen Kampfjets schützen könnten.

Erdogans Regierung verlangt westliche Unterstützung für die Einrichtung einer „Schutzzone“ in Idlib, in der Flüchtlinge untergebracht werden sollen. Eine ähnliche Zone für die Rückumsiedlung syrischer Flüchtlinge aus der Türkei soll nach dem Willen Ankaras im Nordwesten Syriens entstehen. Europa und die USA lehnen die türkischen Pläne bisher ab.

Wie ist die Lage in den griechischen Lagern?

Im Küstenort Skala Sikamineas auf Lesbos nahe der türkischen Küste lagern Flüchtlinge, derzeit sind es viele Afghanen, wieder wie 2015, durchnässt und in der Kälte am Strand und in den Straßen, erfuhr der Tagesspiegel von einem Hotelier. Die Stimmung unter den Griechen, die jahrelang die Lage tolerierten und den Menschen halfen, sei „gemischt“.

Viele können einfach auch nicht mehr, das Chaos auf den völlig überfüllten Inseln könne nicht ewig Alltag sein. Doch gerade wird es noch schlimmer. Das geschlossene Transitlager nahe Skala Sikamineas ist angezündet worden. Griechenland hat Asyl ausgesetzt, Athen Schießübungen auf den Inseln angekündigt, über die oft auch türkische Militärmaschinen fliegen.

Nach Tagesspiegel-Informationen verlassen viele Freiwillige aus Angst vor Angriffen fluchtartig die Insel. Es hat am Sonntag körperliche Angriffe von Einheimischen auf Helfer, Flüchtlinge und Journalisten gegeben, sie seinen verprügelt und verletzt sowie Autos zerstört worden. „Es eskaliert massiv“, teilte ein Berliner Helfer mit.

Was müsste die EU tun?

Die EU müsse jetzt „ihren Teil der Last“ tragen, forderte der türkische Präsident am Montag. Die dringlichste Frage für die Europäer ist nun, ob einzelne Staaten aus humanitären Gründen die im Grenzgebiet zwischen der Türkei und Griechenland gestrandeten Menschen aufnehmen wollen und können.

Zugleich muss geklärt werden, was aus dem 2016 von Brüssel und Ankara geschlossenen Flüchtlingspakt wird. Das Abkommen sieht vor, dass die Türkei Migranten wieder zurücknimmt, die auf den griechischen Inseln ankommen – und dafür die EU andere Flüchtlinge einreisen lässt und die Versorgung der in der Türkei gestrandeten Menschen mit mehreren Milliarden Euro unterstützt.

Wenn die Europäer den Konflikt mit der Türkei um die Flüchtlinge lösen wollen, werden sie sich aber nun mit den unangenehmen Fragen beschäftigen müssen, die der Syrien-Krieg aufwirft, besonders mit der Rolle Russlands. Denn ohne Moskaus militärische Unterstützung wäre die Offensive der syrischen Armee gegen Idlib gar nicht möglich.

Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, Norbert Röttgen (CDU), sprach sich für wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland aus, um auf Moskaus „Eroberungskrieg an der Seite Assads“ zu reagieren. Auch die Grünen-Chefin Annalena Baerbock forderte mehr Druck auf Russland. Damit würden die Europäer am Ende auch der Türkei entgegenkommen. Schutzzonen im Norden Syriens wären nur durchsetzbar, wenn sie durch eine internationale Mission militärisch abgesichert sind.

Und was tut Brüssel tatsächlich?

Die EU setzt darauf, dass die griechische Regierung in der Lage ist, die Grenze zur Türkei für Flüchtlinge dicht zu halten. Dass sich die übrigen EU-Staaten beim Schutz der EU-Außengrenzen solidarisch mit Griechenland zeigen, soll an diesem Dienstag bei einem Treffen der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit dem Athener Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis an der griechischen Landgrenze zur Türkei dokumentiert werden.

Der aus Griechenland stammende EU-Migrationskommissar Margaritis Schinas sagte am Montag bei einer Europakonferenz in Berlin, dass „ein sehr wichtiger Moment für Europa“. Erstaufnahmeländer wie Griechenland oder Italien dürften nicht von der Gemeinschaft allein gelassen werden, forderte er.

Konkret könnte das bedeuten, dass die EU-Staaten diesmal anders als im Jahr 2016 zu einem Kompromiss in der gemeinsamen Asylpolitik kommen. Vorschläge dazu liegen bereits auf dem Tisch: Eine Überlegung besteht darin, Staaten wie Ungarn und Polen, die sich bei der Aufnahme von Flüchtlingen verweigern, finanziell beim weiteren Aufbau des EU-Grenzschutzes verstärkt finanziell in die Pflicht zu nehmen.

Am Donnerstag kommen die EU-Außenminister in Zagreb zusammen. Konkrete Beschlüsse über mögliche neue Zahlungen sind bei dem informellen Treffen nicht zu erwarten. Allerdings hat EU-Ratschef Charles Michel bereits angedeutet, dass die EU ihre Hilfsleistungen zu Gunsten der Flüchtlinge aus dem syrischen Bürgerkrieg noch verstärken könnte.

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