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Polizisten gehen am 12.04.1968 auf dem John-F-Kennedy-Platz in Berlin mit Schlagstöcken gegen Demonstranten vor.

© picture-alliance / Konrad Giehr

Erinnerung an Anti-Schah-Proteste und Benno Ohnesorg: Die überschätzte Revolution

Deutschland wurde nicht 1968 zu einer liberalen Demokratie: Ein persönlicher Rückblick auf das Umbruchsjahr und seine Folgen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Vielleicht ist Berlin ein besonderes historisches Pflaster. Vielleicht waren die politischen Folgen der Revolutionsjahre 1967/68 in dieser Stadt tatsächlich so segensreich, wie das gerade beim Rückblick auf die Proteste gegen den Schah-Besuch und den Tod Benno Ohnesorgs beschrieben wurde, zumeist von Alt-68ern.

Die Saga von der Rettung vor neuem Faschismus

Demnach endete 1968 eine bedrückende Nachkriegszeit, wurde die Bundesrepublik überhaupt erst demokratisch, konnte endlich über die „totgeschwiegenen“ Naziverbrechen geredet werden, und hielten moralische Kriterien Einzug in die politische Debatte. Den Protesten gegen die Notstandsgesetze war es zu verdanken, dass sich nicht gleich wieder der Faschismus ausbreitete.

In meiner Erinnerung – und die ist gewiss subjektiv – hat sich manches etwas anders zugetragen. Ich lebte in den Folgejahren, als mein politisches Bewusstsein erwachte, nicht in Berlin, sondern in Frankfurt am Main. Mit 1968 verband der damals Acht-Jährige traumatische Bilder: bürgerkriegsähnliche Szenen im Universitätsviertel, abgesperrte Straßen, Rauch- und Tränengasschwaden sowie äußerst besorgte Minen der Erwachsenen.

Was war moralisch am Beifall für Pol Pot?

Einige Jahre später wurde ich Oberstufensprecher unseres Gymnasiums und damit Mitglied des städtischen Schülerparlaments. Auf den ersten Blick war es eine willkommene Entschuldigung, sich einige Tage im Monat mit etwas Spannenderem als dem gewohnten Unterricht zu beschäftigen. Die Freude verging rasch. Die Erfahrungen im Schülerparlament konnten mich schwerlich von den Segnungen der Demokratie überzeugen. Den Ton gaben linke Splittergruppen an, zum Großteil so genannte „K-Gruppen“; sie bildeten in der Summe die Mehrheit, bekämpften sich aber erbittert.

Für die Aufarbeitung der Naziverbrechen interessierten sie sich nicht, auch nicht für mehr Demokratie im Lehrplan, mehr Mittel für Kunst, Sport und Sprachen oder bessere sanitäre Anlagen. Mit oft heiseren Stimmen und hochroten Köpfen wurde um Loyalitätsadressen gestritten: wahlweise für Maos China oder Moskau, die kommunistische Führung Vietnams oder den Kambodschaner Pol Pot, der sich bald als Massenmörder herausstellte. Hilfreich war das allenfalls zum Verständnis dessen, was Jürgen Habermas mit seiner Warnung vor dem Linksfaschismus gemeint haben könnte.

Kein Aufschrei gegen sowjetische Panzer in Prag und Kriegsrecht in Polen

Die moralische Überlegenheit der Nach-68er blieb mir so verborgen. Und das schloss, als ich wiederum einige Jahre später Osteuropäische Geschichte studierte, den Großteil der 68er mit ein. Nur wenige zeigten Solidarität mit dem Freiheitskampf der polnischen Solidarnosc gegen die kommunistische Diktatur 1980/81; sie hatten auch 1968 geschwiegen, als sowjetische Panzer den Prager Frühlings niederwalzten.

Die 68er als Wegbereiter der Aufarbeitung der Naziverbrechen? Der kausale Zusammenhang ist eher umgekehrt. Der Auschwitz-Prozess von 1963 bis 1965 in Frankfurt – und zuvor der Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 – hatten einer breiten Öffentlichkeit die Augen für das Ausmaß der Nazi-Gräuel geöffnet. Diese Debatten schufen das Bewusstsein, in dem 1968 möglich wurde.

Mythen über die Aufarbeitung der Naziverbrechen und die Notstandsgesetze

Mutige Staatsanwälte wie Fritz Bauer waren nicht die Folge von 1968, sondern die Vorbedingung. Und dann die Notstandsgesetzgebung. Die 1968er konnten sie nicht verhindern, Gott sei Dank! Das hätte der Bundesrepublik den Weg in die Gemeinschaft souveräner Staaten versperrt.

Man kann verstehen, warum die Väter des Grundgesetzes Notstandsklauseln skeptisch betrachteten: Sie waren am Ende der Weimarer Republik missbraucht worden. Aber trägt das Argument auf Dauer, der Verzicht auf Regeln schütze besser vor Missbrauch als eine klare Abgrenzung, was der Staat bei Naturkatastrophen, Aufstand und Krieg tun darf und was nicht? Notstandsrecht gab es, es lag bei den Besatzungsmächten. Deutsche Gesetze waren die Bedingung für den langen Weg zur vollen Souveränität. Auch da lagen die 68er falsch.

Misstrauen gegen eine autoritäre Linke, die ihre Irrtümer leugnet

Deutschland ist heute eine bessere, eine liberalere, eine transparentere Demokratie als vor 1968. Nach meiner individuellen Lebenserfahrung aber nicht durch 1968 und nicht dank der 68er. Sondern erst, seit die Gesellschaft die Irrungen und Wirrungen dieser Zeit überwunden hatte.

Diese Liberalität ist bis heute von zwei Seiten bedroht: einer autoritären Rechten und einer autoritären Linken. Der Rechten begegnet der Großteil der Öffentlichkeit aus gutem Grund mit Misstrauen. Skepsis ist auch anzuraten gegenüber jenen Linken, die aus ihren Irrtümern im Jahr 1968 und danach nicht lernen möchten, sondern sie in rechthaberischem Rückblick zur Tugend verklären.

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