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Berliner Mauer am 10.11.1989. Ab dem 4. November 2019 erinnert die Hauptstadt mit einer Festivalwoche an den Fall der Mauer vor 30 Jahren.

© Wolfgang Kumm/dpa

Erinnerungskultur: Wir brauchen neue Jahrestage!

Die zunehmende Konzentration auf etablierte Jahrestage verengt unser Geschichtsverständnis. Man sollte den Kanon öffnen. Ein Gastbeitrag.

Frank Bösch ist Historiker und Autor des Buchs „1979“ (Verlag H.C. Beck), das dieses Jahr herauskam. Seit 2011 ist er Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) und Professor für deutsche und europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Universität Potsdam, seit 2014 Leiter der Forschungsgruppe zur Geschichte der Innenministerien in Bonn und Ost-Berlin.

Unsere Öffentlichkeit steht zunehmend im Bann der Jahrestage. Nach 50 Jahren „68“ und 100 Jahren „Weimarer Republik“ folgten etwa „70 Jahre Grundgesetz“ und ein Sommer voller Fontane. Derzeit köchelt allerorten das Thema 30 Jahre Mauerfall, nächstes Jahr stehen 30 Jahre Wiedervereinigung vor der Tür und dann bald wieder 35 Jahre Mauerfall. Mit langen Kalenderlisten wird allerorten geprüft, welche Themen sich künftig runden und damit relevant erscheinen.

Öffentliche Themen und Debatten werden so geradezu planwirtschaftlich Jahre vorher vorbereitet. Ministerien vergeben Millionen für ähnliche Veranstaltungen, Museen basteln an Ausstellungen, und Verlage suchen Autoren, die dann zu Dutzenden mit gleichen Themen in Konkurrenz treten und mitunter hastig ihre Bücher vollenden. Denn ein Jahr später wäre das historische Thema ja nicht mehr aktuell. Zwar profitieren Autoren und Museen von der medialen Aufmerksamkeit, aber sie verlieren ihre eigene gestaltende Kraft bei der Themensetzung.

Die öffentliche Aufmerksamkeit für Geschichte ist natürlich begrüßenswert. Dennoch ist eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Diktat der Jahrestage vonnöten. Problematisch ist zunächst, dass die Magie der runden Jubiläen einen Kanon bestimmter Themen und Daten stärkt. Nachdem sich die Geschichtsvermittlung mühsam von dem Erlernen staatspolitischer Daten emanzipierte, verfestigt der Jahrestagsfetischismus genau diese erneut. Vor allem Kriege, Staatsgründungen oder Geburtstage großer Männer finden besondere Beachtung. Medial ist das gut vermittelbar, da entsprechende Bilder und Anekdoten überliefert sind. Geschichte lässt sich so heroisch erzählen. Problematisch ist, was dies alles ausblendet.

Die kanonischen Jahrestage verengen den Blick auf die Vergangenheit

Denn die kanonischen Jahrestage verengen den Blick auf die Vergangenheit. Viele aktuelle Fragen, die wir heute diskutieren, rücken so öffentlich aus dem Geschichtsbewusstsein. Das Aufkommen von Klima- und Umweltschutz, von Migration oder Rassismus lässt sich eben kaum von den etablierten Jahrestagen aus erzählen. Die Genese wachsender sozialer Unterschiede oder die neuen Dynamiken der Globalisierung sind kein Thema für Jahrestage und damit bisher kaum Gegenstand öffentlich sichtbarer historischer Bücher, Ausstellungen oder Festveranstaltungen.

Eine Lösung ist, den Kanon um andere Ereignisse zu erweitern, die aus heutiger Sicht mehr Aufmerksamkeit verdienen oder bereits frühere Zeitgenossen elektrisierten. Dieses Jahr hatten etwa die erste Weltklimakonferenz 1979 und der erste große Störfall in einem Atomkraftwerk, dem Reaktor nahe Harrisburg, ihren 40. Jahrestag, was Anlass für entsprechende zeithistorische Reflexionen zur Umweltgeschichte bieten würde. 2020 werden die ersten tödlichen Anschläge auf Flüchtlingsheime und die großen rechtsextremen Terroranschläge von 1980 einen ähnlichen Jahrestag haben. Sie wären aus gutem Grund in den Erinnerungskanon aufzunehmen – nicht zuletzt, weil der damalige Rädelsführer Manfred Roeder zum Vorbild für die nächste Generation von Rechtsextremisten wurde.

Der sich wandelnde Alltag der Menschen erschließt sich kaum über Jahrestage

Jahrestage bescheren jedoch ein weiteres Problem: Der sich wandelnde Alltag der Menschen erschließt sich kaum über sie. Natürlich blitzt beim Begehen des 8. Mai 1945 oder des 9. November 1989 kurz auf, dass sich damals die Lebenswelt vieler Menschen fundamental wandelte. Historischer Wandel im Alltag vollzieht sich jedoch in längeren Prozessen, die eher in Jahrzehnten zu messen sind. Wünschenswert wäre also, wenn Medien auch lebensweltliche Themen wie die Veränderung der Arbeit, Freizeit oder Familie ganz anlasslos aufgreifen. Eine Alternative ist, damit verbundene unscheinbare Jahrestage von Gesetzen als Ausgangspunkt zu nehmen, die Veränderungen bescherten oder einen vollzogenen Wandel kodifizierten; wie die Rentenreform 1957, die Entschärfung des Paragraphen 175 zur Homosexualität 1969 oder die Reformen des Paragraphen 218 zum Schwangerschaftsabbruch. Dies ist jedoch auch ganz ohne Jahrestage möglich, nämlich einfach zur Schärfung des Blickes auf aktuelle Debatten über Altersarmut oder Diskriminierung.

Zudem zementieren Jahrestage vor allem nationale Mythen. Sie diskutieren das Werden unserer Nation, mal als Tragödie, mal als heroischen Aufbruch. Damit verabsolutieren sie deutsche Entwicklungen aus sich heraus. Wer auf den Mauerfall als Ende des Kalten Kriegs blickt, der vergisst leicht die dafür grundlegenden Reformen bei den östlichen sozialistischen Bruderstaaten. Generell waren viele Einschnitte in Staaten ganz anders. 1918 ruhten etwa nicht überall in Europa die Waffen. Entsprechend haben die besten Bücher zu Jahrestagen wie dem Ersten Weltkrieg eine internationale Perspektive gesucht, die sich im Text von den Daten entfernte.

Jahrestage setzen eine bestimmte Perspektive auf die Geschichte und unterlaufen andere Sichtweisen

Jahrestage setzen eine bestimmte Perspektive auf die Geschichte und unterlaufen damit andere Sichtweisen. In diesem Jahr war etwa bemerkenswert, dass wir die ost- und westdeutsche Geschichte getrennt begingen: 70 Jahre Grundgesetz im Westen, 30 Jahre Mauerfall im Osten. Beides markiert den Weg in die Demokratie und damit langfristige Erfolgsgeschichten. Es führt aber auch dazu, dass wir die DDR vor allem von ihrem Zusammenbruch her sehen. Durch den Blick von 1989 erscheint die DDR im Stile von „Good Bye Lenin!“ als ein von Greisen regierter, zusammenbrechender Staat, gegen den sich breiter Widerstand regte. Würde man die DDR von anderen Jahren aus betrachten, etwa von 1965 oder 1975, wäre die Deutung eine völlig andere. Hier würde das Bild eines starken Überwachungsstaates aufschimmern, der in der eigenen Bevölkerung und auch im Ausland keineswegs als Kuriosum erschien, sondern als ein stabiles Gebilde.

Natürlich können Jahrestage auch eine über sie hinausreichende Kraft entfalten, die neue Akzente setzt. Dem 30. Geburtstag des Mauerfalls sahen viele erst gelangweilt entgegen. Tatsächlich entstand dazu eine sehr lebendige Debatte. Denn neben die Erinnerung an den heroischen Protest trat nun eine Auseinandersetzung mit den Problemen des gesellschaftlichen Umbruchs in Ostdeutschland in den 1990er Jahren. Damit rückte der sich wandelnde Alltag in den Vordergrund. Da die Erinnerung daran als Grund für die heutige Krise der Demokratie in Ostdeutschland gesehen wird, fand diese Debatte große Aufmerksamkeit. Der Erfolg der AfD trug dazu bei, dass nun auch die westdeutsche Öffentlichkeit mehr Interesse an dem Umbruch in Ostdeutschland zeigt.

Die Endlosschleife der Jahrestage geht weiter, Medien recyceln ihre Beiträge

Die Endlosschleife der Jahrestage dreht sich jedoch immer weiter und die Medien recyceln ihre Beiträge. Früher fiel weniger auf, was die digitale Textrecherche leicht sichtbar macht. Mittlerweile begehen wir sogar die Erinnerung an die Jahrestage, etwa 2015 „30 Jahre Rede von Weizsäcker 1985 zum 40. Jahrestag des Kriegsendes 1945“.

Jahrestage sind ein wichtiger Kitt in unserer fragmentierten Gesellschaft. Das mit ihnen verbundene Pathos schafft einigende Momente. Und auch wenn die Daten polarisieren, diskutieren unterschiedliche Medien zumindest für einen Moment über ähnliche Themen. Nötig ist jedoch eine kreative Öffnung des Kanons, ein Verzicht auf Fünfjahresschritte im Gedenken und mehr Spielraum für brisante Themen, die keinen Jahrestag haben, aber eine historische Erklärung benötigen.

Frank Bösch

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