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Politik: Erschöpfter Protest

Russlands Oppositionsbewegung braucht neue Strategie / Moskau will Demonstrationsrecht verschärfen.

Boris Akunin war schon vor der Demonstration am Samstag in Moskau auf Schlimmes gefasst. Der Schriftsteller, der zu den prominentesten Führern der russischen Protestbewegung gehört, ermahnte seine Anhänger, den Fakten nüchtern ins Auge zu sehen: Die Euphorie angesichts der weit mehr als 50 000 Menschen, die im Dezember in Moskau gegen die Fälschung der Ergebnisse der Parlamentswahlen auf die Straße gegangen waren, sei verfrüht gewesen. Der Weg zu realen Veränderungen werde lang und steinig sein, Rückschläge würden dabei nicht ausblieben.

Andere Oppositionsführer trieben ähnliche Befürchtungen um. Und ihre Ahnungen trogen sie nicht: Bei der Demonstration am Samstag waren nach offiziellen Angaben nur 8000 Teilnehmer, die Organisatoren sprachen von 25 000 Teilnehmern. Die Moskauer Stadtregierung plant Medienberichten zufolge unterdessen eine Verschärfung des Demonstrationsrechts. Die Versammlungen hätten Wirtschaft und Verkehr und den „Rhythmus des Stadtlebens“ gestört, sagte ein hochrangiger Mitarbeiter der Stadtverwaltung der Agentur Interfax.

Zwar drohte der radikale Flügel der Protestler daraufhin, der Volkszorn würde sich dann eben spontan entladen. Doch selbst jene Experten, die mit den Protesten sympathisieren, bescheinigen diesen Erschöpfung: Das vom Westen bereits zur „Schneerevolution“ hochgejubelte Aufbegehren werde in wenigen Monaten, womöglich sogar Wochen, in sich zusammensacken. Vorerst jedenfalls.

Swjatoslaw Kaspé, der Chefredakteur von „Politeia“, einer Fachzeitschrift für Politikwissenschaftler und Soziologen, macht dafür mehrere Gründe verantwortlich. Führung und Basis der Proteste hätten ein völlig unterschiedliches Politikverständnis, daran scheitere auch der Konsens zu einem konkreten Forderungskatalog und zum weiteren Vorgehen. Klare, einfache Losungen, wie sie für die landesweite Mobilisierung Unzufriedener erforderlich sind, seien bislang nicht einmal in Ansätzen erkennbar.

Dazu kommt, dass die karnevalistische Form des Protests, von der sich die Organisatoren Massenwirkung erhofften, viele eher abstößt. In der Tat zeigten sich vor allem Intellektuelle irritiert, mussten bei der Frage nach neuen Formen allerdings passen.

Vor allem aber fehlt den Protestlern in der Provinz nach wie vor die Basis, weil sie es bisher nicht schafften, ihre Forderungen nach politischen Freiheiten mit solchen nach mehr sozialer Gerechtigkeit zu verbinden. An diesem Spagat waren schon die liberalen Parteien gescheitert. Gleiches droht jetzt der Protestbewegung, die angesichts internen Machtgerangels ihrer Frontleute ausgerechnet einem Turbokapitalisten die Führung antragen könnte: Multimilliardär Michail Prochorow, der bei den Präsidentenwahlen Dritter wurde. Dahinter steht die durchaus richtige Erkenntnis, dass die Protestbewegung sich ohne allgemein anerkannte Führung weder konsolidieren noch strukturieren kann. Beides ist Voraussetzung dafür, dass die diffuse Bewegung sich zu einer politischen Kraft entwickeln kann. Derzeit droht ihr eher die Atomisierung. Mehrere ihrer Vordenker haben bereits die Gründung eigener liberaler Parteien angekündigt.

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