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Ein Mädchen zieht sich verängstigt zurück.

© IMAGO

Erstes Urteil im Fall Münster: Bald könnten mehr Missbrauchstäter als bisher ungestraft davonkommen

Politiker aller Parteien fordern lautstark härtere Strafen für Missbrauchstäter. Ein neues Sexualstrafgesetz soll dabei helfen. Es könnte aber das Gegenteil bewirken.

Erstes Urteil im Missbrauchskomplex Münster: Ein 53-Jähriger ist am Freitag zu einer Haftstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt worden. Er hat einen neunjährigen Jungen vergewaltigt. Er war geständig, er gab Hinweise zu anderen Tätern. Dem Hauptangeklagten in dem Verfahren droht eine viel höhere Strafe.

Münster ist wie Bergisch Gladbach eine Chiffre für jüngste Beispiele monströsen Kindesmissbrauchs. Münster und Bergisch Gladbach, das sind aber auch Chiffren für ein Beispiel, wie man die Verfolgung von Missbrauch erheblich schwächen kann. Sofort nachdem die Taten bekannt geworden waren, riefen Politiker verschiedener Parteien lautstark und empört nach härteren Strafen für Täter. Ein Reflex, eingeübt und aber in diesem Fall möglicherweise einer mit fatalen Folgen.

Politiker nahmen die Empörung der Bevölkerung auf

Jene Politiker, die lautstark härtere Strafen forderten, die hatten die Empörung und die Wut der Bevölkerung aufgenommen. Sie stellten sich an die Spitze der aufgebrachten Öffentlichkeit und machten sich, mit Kollegen, für eine Reform des Sexualstrafgesetzes stark. Es soll Missbrauch stärker als bisher bekämpfen. Die Reform wird derzeit in den politischen parlamentarischen Gremien beraten.

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Nur sagen serienweise Experten aller juristischen Bereiche, Richter, Staatsanwälte, Ermittler, dass dieses neue Gesetz genau das Gegenteil von dem bewirken wird, was sein Ziel ist. In der Konsequenz, so steht zu erwarten, werden mehr Täter als bisher ungestraft davonkommen.

Justizministerin Christine Lambrecht hat sich somit Politikern gebeugt, die mit ihren Forderungen nach härteren Strafen nur bewiesen haben, dass sie sich entweder mit dem Thema nicht auskennen, oder populistisch differenzierte Punkte ignorieren.

Härtere Strafen schrecken nicht ab

Härtere Strafen haben bei Missbrauch noch nie Täter abgeschreckt. Täter haben nur Angst vor Entdeckung. Nach dem neuen Gesetz soll es bei schwieriger Beweislage und minderschweren Fällen keine Strafbefehle mehr geben.

Strafbefehle dienen bei unklarer Beweislage bisher oft allen Seiten: Der Staatsanwalt erhält ein Geständnis, dem Täter bleibt die öffentliche Verhandlung erspart, Opfer müssen vor Gericht nicht ihrem Peiniger gegenübertreten.

Jetzt soll es nur öffentliche Verhandlungen geben. Das Ergebnis ist absehbar, genau davor warnen die Experten. Täter, die einen Strafbefehl akzeptiert hätten, schweigen vor Gericht, ihre Verteidiger ziehen alle Register, um einen Prozess zu verlängern und zu gewinnen, am Ende steht, in dubio pro reo, dann oft genug ein Freispruch.

Am Ende haben so dann auch nur jene Politiker, die genau die Entwicklung mit ihrem Gesetz ermöglichten, ihr Image als harte Hunde bewahrt. Den Opfern bleibt neben ihren Traumata noch die katastrophale Erfahrung, ihren jeweiligen Peiniger als freien Mann aus dem Gerichtssaal spazieren zu sehen.

Nur Nordrhein-Westfalen hat Personal zur Missbrauchsbekämpfung aufgestockt

Kindesmissbrauch ist ein schreckliches Delikt. Die Opfer sind die wehrlosesten der Gesellschaft. Jeder ist gegen Missbrauch, jeder klagt solche Taten an, parteiübergreifend. Aber diese Empörung verliert sofort an Glaubwürdigkeit, wenn sie nicht in konsequente, hocheffektive Verfolgung der Taten umgesetzt wird.

Nur Nordrhein-Westfalen, angetrieben von dem durch die Bilder von Lügde schockierten Innenminister Herbert Reul, setzt jetzt genügend Richter, Staatsanwälte, Ermittler und Technik im Kampf gegen den Missbrauch ein. In allen anderen Bundesländern mangelt es an allen Ecken und Enden an Personal.

In Berlin zum Beispiel fehlen in der entsprechenden Abteilung der Staatsanwaltschaft sieben Dezernenten. Eine Staatsanwältin schrieb ihr Plädoyer zu einem Missbrauchsfall in ihrem Sommerurlaub. Auch die entsprechenden Abteilungen beim Landeskriminalamt Berlin sind völlig unterbesetzt.

Nicht mal die Prävention klappt richtig

Wenn das neue Gesetz effektiv funktionieren soll, dann müssen sehr viele neue Staatsanwälte und Richter eingestellt werden. Von den Gerichtssälen, die zusätzlich benötigt werden, ganz zu schweigen. Aber neues Personal – während wegen der Coronakrise die öffentlichen Kassen leer geräumt werden? Völlig illusorisch. In der Konsequenz müssten Verfahren wohl eingestellt werden.

Nicht mal die Prävention klappt richtig. Bis heute gibt es kaum ein Bundesland, das jede Schule verpflichtet, ein Schutzkonzept gegen sexuelle Gewalt zu entwickeln. Die Forderung nach solchen Konzepten, mit dem man unter anderem besser als bisher erkennen kann, ob unter den Jugend und Mädchen Missbrauchsopfer sind, gibt es seit Jahren. Passiert ist nahezu nichts. Irgendwann wird der nächste große Missbrauchsskandal für Schlagzeilen sorgen. Doch die vielen Opfer, die unbemerkt leiden, die sieht keiner. Nur eines ist sicher: Wenn das neue Gesetz kommen sollte, wird ihre Zahl steigen.

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