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Politik: Es geht um glaubwürdige Gesten, nicht um Ansprüche (Kommentar)

Die beiden Eckpfeiler sind klar. Haben Millionen Menschen vor allem aus Osteuropa, die in der deutschen Kriegswirtschaft Zwangsarbeit leisten mussten, einen moralischen Anspruch auf eine Entschädigung?

Die beiden Eckpfeiler sind klar. Haben Millionen Menschen vor allem aus Osteuropa, die in der deutschen Kriegswirtschaft Zwangsarbeit leisten mussten, einen moralischen Anspruch auf eine Entschädigung? Fraglos ja. Und haben deutsche Großunternehmen beim Eintritt ins 21. Jahrhundert einen berechtigten Anspruch darauf, die Firmengeschichte der ersten Hälfte des auslaufenden Jahrhunderts nicht mehr länger als kalkulatorischen Unsicherheitsposten in ihre Finanzplanung hineinrechnen zu müssen? Ebenfalls ja.

So kamen sie am Mittwoch also erneut zusammen, die deutschen Firmen, die Vertreter Israels und der osteuropäischen Staaten, Opferverbände und deren Anwälte. Manchmal hilft Nachsitzen ja. Ursprünglich sollten die Verhandlungen in Washington zu einer Einigung bis zum 1. September führen. Diesmal half das Nachsitzen ganz besonders. US-Gerichte hatten zwischenzeitlich Sammelklagen gegen Unternehmen aus der Bundesrepublik, darunter Degussa, abgewiesen. Dies entspricht einer Verschiebung der Verhandlungsgewichte hin zur deutschen Position: Es geht nicht um Rechtsansprüche, es geht um symbolische Gesten.

Wieviele Dollar reichen, um die Symbolik glaubhaft zu machen? Vernünftigerweise hatten sich die Verhandlungsparteien - unter Führung von Otto Graf Lambsdorff als Beauftragtem der Bundesregierung und Stuart Eizenstat, dem Finanz-Staatssekretär, für die US-Regierung - bereits darauf verständigt, die Opfer in zwei Gruppen einzuteilen: kasernierte oder in Lagern gehaltene Zwangsarbeiter und aus KZs entliehene Sklavenarbeiter, die sich zu Tode schuften sollten. Niemand weiss präzise, wieviele Überlebende es noch gibt. Und so bedeutet die Einrichtung einer Stiftung der deutschen Industrie eben auch, dass eine Gesamtsumme für die Entschädigung aller Ansprüche gewährt und festgelegt wird, aber kein in Mark oder Dollar fixierter Anspruch jedes individuellen Opfers. Was das bedeutet, wenn die Anspruchsberechtigten sich gemeldet haben und der Topf geteilt wird, weiss niemand. Angemessen ist es, die Gesamtsumme so zu veranschlagen, dass für Zwangsarbeiter mindestens vier- und für Sklavenarbeiter fünfstellige Summen herauskommen.

Die Gerichtsentscheidung im Fall Degussa und die zuversichtlichen Signale aus Eizenstats Umfeld stehen in seltsamem Widerspruch zur konfrontativen Linie, mit der die US-Anwälte und die Interessenvertreter der Minderheit unter den Opfern, der jüdischen Zwangsarbeiter, in die Verhandlungen gegangen sind. DaimlerChrysler, Bayer und Ford mussten sich wieder einmal ganzseitige Anzeigen in grossen US-Zeitungen gefallen lassen. "Bayers größte Kopfschmerzen" und "Mercedes-Benz: Design - Leistung - Sklavenarbeit" lauteten die Parolen.

Die Verhandlungen sind hochkompliziert, und sie sind durch die Verknüpfung mit den Problemkreisen Bundesstiftung (für die Zwangsarbeiter im öffentlichen Dienst und die in der Landwirtschaft) sowie Banken und Versicherungen nicht einfacher geworden.

Einige der Teilregelungen sind indes vernünftig. Dass die Leistungen als humanitäre Geste nur Betroffenen zu Gute kommen sollen, aber nicht vererbbar sind, hat seinen Sinn. Dass die deutschen Unternehmen keinen perfekten Schutz, aber ein realistisches Maß an Rechtsfrieden erhalten, scheint durch die bilaterale Vereinbarung gewährleistet. Sie enthält eine Empfehlung der US-Regierung an die Gerichte in Amerika, sich bei weiteren Sammelklagen für nicht zuständig zu erklären.

Unter die Geschichte kann man keinen Schlussstrich ziehen. Unter Haftungsfragen muss es einen geben.

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