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Politik: „Es gibt tausend Ängste“

Der französische Philosoph André Glucksmann über Berlin, Paris – und was sie an Europa nicht verstehen

DENKER

André Glucksmann ist einer der wichtigsten Philosophen Frankreichs. Der Sohn einer deutschjüdischen Familie ist im 10. Pariser Arrondissement zu Hause.

DEBATTE

Der 67-Jährige scheut sich im Gegensatz zu anderen Intellektuellen in Frankreich nicht, sich in die Politik einzumischen. Vor dem Referendum über die EU-Verfassung am 29. Mai setzt er sich für ein „Ja“ ein.

DEUTSCHLAND

Sein Vater überlebte den Holocaust nicht. Dennoch versteht er sich als „Kind deutscher Kultur“. In seinem Buch „Les maitres penseurs“ („Die Meisterdenker“) kritisierte er Fichte, Hegel, Marx und Nietzsche.

Herr Glucksmann, sind die Franzosen verrückt geworden?

Nein.

Man stellt sich aber im Ausland die Frage, wie es sein kann, dass eine der europäischen Gründernationen der EU-Verfassung ihre Zustimmung zu versagen droht.

Die Franzosen sind in dieser Frage gespalten.

Stellen wir die Frage mal anders: Haben Ihre Landsleute Spaß daran, das „Enfant terrible“ Europas zu spielen?

Es handelt sich hier um kein Spiel, sondern um eine extrem ernste Angelegenheit. Ich gehöre zu denen, die die Verfassung befürworten. Bei der Verfassung handelt es sich um einen juristisch-diplomatischen Text, der extrem kompliziert ist. Die Leute antworten mit „Ja“ oder „Nein“, ohne die Details der Verfassung verstanden zu haben. Das ist kein Vorwurf an die Wähler. Sie können die Experten und die Abgeordneten nicht ersetzen. Aber wenn es gar nicht um die Verfassung geht, worum geht es dann? Wenn man sich die Argumente beider Seiten anhört, dann stellt sich heraus, dass sich die Geister vor allem an der Frage der EU-Erweiterung von 15 auf 25 und eines Tages 29 Mitglieder scheiden. Wir hätten damals ein Referendum über die Erweiterung abhalten müssen. Das wird jetzt nachgeholt, sozusagen in einer inoffiziellen Volksabstimmung, und da lautet die Frage: Ja oder Nein zur Erweiterung?

Sie halten den Franzosen im Zusammenhang mit der Ablehnung Europas ihren Narzissmus vor. Ist diese Wesensart geschichtlich begründet oder ist dies eine neue Erscheinung?

Natürlich hat das historische Wurzeln, ist aber keine ausschließlich französische Spezialität. Auch andere Nationen betrachten sich ja gerne als „Über alles“. Der aktuelle französische Narzissmus ist allerdings tatsächlich etwas Neues, es handelt sich um einen unglücklichen Narzissmus. Er geht mit einem schlechten Gewissen einher, mit einer Art Weltuntergangsstimmung und zudem mit großer Scheinheiligkeit. Die Franzosen wissen heute, ohne es allerdings zuzugeben, dass ihr Land nicht die Nummer eins in der Welt ist. Das tut weh, das macht traurig, man fühlt sich unterlegen. Die Franzosen sind atypische Narzissten, denn anders als die historische Figur des Narziss wollen sie sich nicht selbstbewundernd auf der Wasseroberfläche betrachten, sondern ziehen es vor, den Spiegel zu zertrümmern. Das erklärt auch die französische Anti-Haltung zu Europa. Im Europa der 25 spielt Frankreich zwar eine große Rolle, aber eben nicht die große Rolle. Also: Lieber das jetzige erweiterte Europa zerschlagen, als sich als ein Land neben anderen wiederzufinden.

Die Angst vor der EU-Erweiterung – ist das die größte Angst in Frankreich?

Es gibt tausend Ängste – als allerletztes Beispiel die Angst, den Pfingstmontag als Feiertag zu verlieren. Man muss aber einen wesentlichen Punkt festhalten: Es gibt in Frankreich eine Mehrheit gegen die EU-Erweiterung. Zunächst einmal auf der Seite der Verfassungsgegner, aber zum Teil auch bei den Befürwortern. Das erklärt vieles. Wenn Chirac spricht, dann verkauft er das „Ja“ mit den Argumenten des „Nein“.

Zum Beispiel?

Ein Thema Chiracs lautet so: Man muss mit „Ja“ stimmen, um eine anti-amerikanische Macht aufzubauen. Resultat: Der Wähler weiß aber, dass ein Europa der 25 nicht anti-amerikanisch sein wird. Etwa 20 Regierungen stehen der amerikanischen Position nahe. Also denkt sich der Wähler: Wenn ich ein anti-amerikanisches Europa will, muss ich mit „Nein“ stimmen. Wir haben eine so genannte „Achse des Friedens“, bestehend aus Paris, Berlin, Madrid und Moskau. Diese Allianz, die von Chirac gefordert wird, spaltet aber ganz offensichtlich die EU.

Sie argumentieren: Europa soll sich nicht als Gegenmacht zu den USA aufspielen. Wozu soll die EU dann gut sein?

Die Stärke der EU liegt darin, die demokratischen Befreiungsbewegungen in Kontinentaleuropa zu unterstützen und diese Völker zum Frieden zu führen. Wenn sich also die Menschen in der Ukraine gegen ein verrottetes, despotisches post-kommunistisches Regime auflehnen, was verlangen sie dann? Eine Anbindung an die Europäische Union. Die kleine deutsch-französische Clique versteht nicht, dass die EU die große Vereinigung des Kontinents erreicht hat – allerdings nicht durch ihr gutes Vorbild oder ihre Weisheit, sondern durch den Kampf der verschiedenen Völker. Die Berliner Mauer ist dank Solidarnosc gefallen, dank der Ungarn, die die Grenze geöffnet haben – und dank der Ostdeutschen. Sie haben sich aufgelehnt, was ein seltener Vorgang ist.

Ihre Haltung gegenüber dem deutsch-französischen Führungsduo ist ziemlich kritisch, fast ablehnend. Welche Rolle können Berlin und Paris künftig in der größer werdenden EU spielen?

Derzeit tun sich beide als Blockierer hervor. Präsident Chirac verabscheut die neuen Mitgliedsländer in Osteuropa und sagt das auch offen, man erinnere sich nur an seine Bemerkung im Zusammenhang mit dem Irakkrieg, die Neuen hätten erst einmal den Mund zu halten. Sowohl Chirac als auch Schröder spielen zurzeit eine negative Rolle, weil sie sich für Putin entschieden haben. Und das ist skandalös. Auf der anderen Seite: Beim Aufbau Europas waren Deutschland und Frankreich ja immerhin die so genannten Motor-Länder. Positiv wäre es, wenn sich Chirac und Schröder auf den Geist der frühesten europäischen Dokumente zurückbesinnen würden, die noch im Krieg entstanden. Damals ging es um die Befreiung Europas von national-chauvinistischen Attitüden und ein friedliches, neutrales, kooperatives Miteinander. Wenn Chirac und Schröder heute in einem neuen Europa die Länder zusammenführen wollen, die sich gerade emanzipieren wie beispielsweise die Ukraine, müssen sie auf diese ersten Europa-Verträge zurückkommen. Mit Putin geht dies allerdings nicht, denn der führt einen fürchterlichen Krieg in Tschetschenien, der koloniale und sogar stalinistische Züge trägt.

Zur Türkei: Chirac und Schröder wollen beide mit der Türkei Beitragsverhandlungen führen. Soll die Türkei in der EU einen Platz haben?

Zunächst glaube ich, dass die Türkei-Frage ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt von denen lanciert wurde, die ein „Nein“ bei der Verfassungsabstimmung heraufbeschwören wollen, zumindest in Frankreich. Denn es ist doch klar, dass die Verhandlungen sehr lange dauern werden. Warum provoziert die Türkei-Frage ein sicheres „Nein“? Weil die Bevölkerung jetzt schon Probleme mit der Ost-Erweiterung der EU hat. Mit dem Türkei-Problem gießt man also Öl ins Feuer. Ich selbst denke, im Prinzip ist nichts gegen die Türkei in der EU zu sagen, aber keinesfalls zum jetzigen Zeitpunkt. Selbst langfristig ist keineswegs sicher, ob die Türkei jemals die Beitrittsbedingungen erfüllt. Aber die Türkei eignet sich im Moment prächtig, alle möglichen Ängste in Sachen Rassismus und Islam zu schüren nach dem Motto: Die Türken sind nicht wie wir, ebenso wenig die Osteuropäer. Das ist ja das Seltsame derzeit in Frankreich: Der polnische Klempner und der muslimische Einwanderer stellen dasselbe Feindbild dar.

Nicht zu vergessen: Der portugiesische Maurer!

Genau, und eigenartigerweise ist das alles nicht neu. In der Zeit des EU-Beitritts von Spanien und Portugal gab es an den Küsten und Grenzen handfeste Auseinandersetzungen zwischen französischen und spanischen Fischern, den Kabeljau- und den Thunfischkrieg, den Tomaten- und den Erdbeerkrieg. Ich erinnere mich an den damaligen französischen Botschafter in Madrid, einen von François Mitterrand eingesetzten Sozialisten, der in Spanien noch heute lebhafte Erinnerungen auslöst, weil er absolut selbstherrlich und autoritär war. Dieser Diplomat bezeichnete die Spanier damals als „Idioten“, die man niemals in die EU hätte aufnehmen dürfen. Heute ist die Mehrheit der Franzosen dermaßen heftig gegen die Ost-Erweiterung der EU – nicht etwa gegen die Verfassung, die spielt eine untergeordnete Rolle –, dass sie die Zerschlagung der EU vorzieht.

Welche Klänge und Bilder stellen sich bei Ihnen beim Stichwort Europa ein? Denken Sie an Wagner, an Vivaldi oder an Matisse?

Ich habe immer bedauert, dass die Schulkinder künftig womöglich das Vorwort der neuen Europa-Verfassung auswendig lernen müssen. Dieses Vorwort ist erschreckend nichts sagend und leer, wirklich bedauerlich. Es knüpft in keiner Weise an europäische Werte und Kulturbegriffe an, man erfährt nichts über das Europa von Shakespeare, Montaigne, Goethe, Einstein oder wen auch immer, nichts Geschichtliches, absolut nichts. Schade, denn wenn die Welt etwas von Europa lernen könnte, wären es die weit zurückreichenden Gedanken großer Dichter, Denker und Philosophen, beispielsweise zum Thema Toleranz.

Das Gespräch führten Sabine Heimgärtner und Albrecht Meier. Das Foto machte Thierry Chesnot (Sipa).

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