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Politik: „Es handelt sich nicht um Einzelfälle“

Petitionsausschuss des Bundestages: Heimkinder der 50er und 60er Jahre leiden noch heute

Der Petitionsausschuss hat im Dezember ehemalige Heimkinder der 50er und 60er Jahre angehört, die Entschädigung für Schläge, Misshandlungen oder Kinderarbeit fordern. Wie sprechen Erwachsene als Opfer über solche Erfahrungen?

Was die Betroffenen dort vorgetragen haben, treibt alle im Ausschuss bis heute um. Ich kann mich nicht erinnern, dass über zwei Stunden so aufmerksam und intensiv zugehört wurde. Menschen, die mittlerweile 50 oder 60 Jahre alt sind, haben beschrieben, wie sie als Kinder in Heimen Traumata erlitten haben, die bis heute ihr Leben bestimmen. Wie schwer viele an diesen Kindheitserlebnissen tragen, zeigt sich an Beziehungsstörungen, an körperlichen Schäden und daran, dass manche bis heute selbst in der eigenen Familie über ihre Kindheit nicht sprechen können.

Handelt es sich nach ihrem Eindruck um Einzelfälle oder um ein allgemeines Unrecht in der Heimerziehung dieser Zeit?

Wir haben Einzelfälle angehört, aber längst nicht alle, die im Verein der Heimkinder sind. Schon diese Zahl lässt den Schluss zu, dass es nicht nur um einige Kinder in wenigen Heimen geht. Damals gab es eine ganz andere Konzeption von pädagogischer Arbeit in Heimen, als wir sie heute zum Glück haben. Aber allein der Einsatz von körperlicher Gewalt ging weit auch über das hinaus, was in den 50er Jahren akzeptiert wurde. Es handelt sich nicht um Einzelfälle.

Damals war es gängige Auffassung, dass eine Ohrfeige noch keinem Kind geschadet habe. Ist die Situation in den Heimen nicht einfach dem damaligen Zeitgeist zuzuschreiben?

Nein, das sehe ich anders. Wenn Kinder in sogenannten Besinnungszimmern oder Klabausen mehrere Tage streng isoliert werden, dann würden wir das heute als Folter betrachten. Aber selbst unter den damaligen Maßstäben musste es mehr als kritisch bewertet werden. Es hat so etwas ja auch nicht in allen Heimen gegeben. Der Verein der Heimkinder hat nachgewiesen: Großen Gruppen ist Unrecht wiederfahren, in mehreren Bundesländern, in Heimen kirchlicher oder staatlicher Trägerschaft. Es geht nicht um gelegentliche Entgleisungen überforderter Erzieher oder Heimleiter. Und deshalb müssen wir uns den Forderungen der Betroffenen grundsätzlich zuwenden.

Die Heimkinder verlangen die Anerkennung des erlittenen Unrechts und eine materielle Entschädigung wie z. B. nachträgliche Anerkennung von Rentenansprüchen. Was wird der Petitionsausschuss vorschlagen?

Es sind Schritte auf verschiedenen Eben nötig. Zuallererst muss sichergestellt werden, dass alle Unterlagen und Akten zugänglich gemacht werden. Wir müssen besser wissen, wie viele Menschen welches Unrecht erlitten haben. Neben der Klärung der individuellen materiellen Entschädigungsansprüche brauchen wir ein strukturiertes Gespräch darüber, wie wir mit Unrecht, Schuldanerkennung und dokumentierter Aufarbeitung umgehen. Ich schlage eine Heimkinderkonferenz vor, die Betroffene, kirchliche und staatliche Träger an einen Tisch bringt und in einem abgesteckten Zeitrahmen diese Fragen klärt. Nach meinem Eindruck ist für die ehemaligen Heimkinder sehr wichtig, dass die Gesellschaft offiziell anerkennt: Euch ist Unrecht geschehen. Die Verantwortlichen bitten um Entschuldigung.

Das Interview führte Tissy Bruns.

Gabriele

Lösekrug-Möller , Bundestagsabgeordnete aus Hameln-

Pyrmont, ist SPD-Sprecherin im

Petitionsausschuss des Deutschen

Bundestages

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