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Politik: Es liegt auch an der Welt

STREIT IN DER UNION

Von Robert Birnbaum

Wenn in der Politik die Wortkanonen donnern, dann tut der Bürger klug daran, sich einen Ohrenschützer zu besorgen. Im Moment dröhnen einige Geschütze besonders laut und heftig. „Soziale Kälte“ werfen die einen den anderen vor, „schockiert“ sind die einen über die Ideen der anderen, vom Untergang der Volkspartei ist schon die Rede. Nein, wir sprechen ausnahmsweise nicht von der SPD, und wir meinen auch nicht die Scharmützel zwischen Regierung und Opposition. Das schwere Geschütz wird in CDU und CSU in Stellung gebracht, und zwar für Feuer in die eigenen Reihen. Für die Opposition ist die Zeit vorbei, in der sie gemütlich den Bruderkämpfen im Regierungslager zuschauen konnte. Seit ein paar Tagen verläuft die Front quer durch die Union.

Verwunderlich ist das nicht. Seit einem guten Jahrzehnt führt die politische Klasse der Republik eine Debatte darüber, dass in diesem Lande grundlegende Reformen nötig seien. Seit einem Jahrzehnt ist es aber im Grunde bei der Debatte geblieben. Die späte KohlRegierung hat Anläufe unternommen, etwa mit der Steuer- und der Rentenreform. Die frühe Schröder-Regierung hat selbst die kleinen Anläufe für überflüssig erklärt und rückgängig gemacht. In beiden Volksparteien herrschte in all diesen Jahren ein stillschweigender Konsens, dass es von politischem Mut zeuge, den Menschen Zumutungen und Veränderung zu predigen, aber von Übermut, die Predigt in Taten umzusetzen.

Doch mit dieser bequemen Form der Schizophrenie ist es vorbei. Vielleicht wird man es später einmal als das unfreiwillige historische Verdienst der rot-grünen Bundesregierung würdigen, dass sie ein paar Jahre lang vorgeführt hat, wie es nicht mehr geht: Mit kleinen Reparaturen hier und kleinen Veränderungen da, mit ein bisschen Hartz und ein bisschen Rürup und überhaupt von allem immer nur ein bisschen. Die Regierung hat aus ihren Fehlern gelernt. Die Opposition hat die Fehler immer gesehen. Aber jetzt erst, im kalten Herbst 2003, sind beide so weit, dass sie aus der Erkenntnis konkrete Konsequenzen ziehen.

Das tut weh, und es bedeutet in vielem einen Abschied von der alten Republik. Die war nicht so idyllisch, wie sie im Nachhinein oft wirkt. Aber sie war vergleichsweise schon eine Art beste aller Welten: mit erträglicher Arbeitslosigkeit, genug Geld zum Umverteilen an jedermann, genug Wachstum, um jeden Neuzugang am Wohlstand zu beteiligen und den Alten einen geruhsamen Lebensabend zu garantieren. Das heutige Deutschland ist davon weit entfernt, und es wird dahin auch nicht mehr in kurzer Frist zurückkehren. Aus der gerechten Verteilung des Überflusses ist die intelligente Organisation des Mangels geworden. Diese Intelligenz kann aus Sicht des Einzelnen ungerecht sein. Das ist der zentrale Punkt, an dem sich derzeit in den Volksparteien der Streit entzündet.

Insofern hat einer wie Norbert Blüm ja völlig Recht, wenn er in den Konturen der neuen CDU, die sich da schon seit einiger Zeit abzeichnen, seine alte Partei nicht wiederfindet. Aber dass die Welt der Angela Merkel nicht mehr seine Welt ist, liegt nicht nur an der CDU-Chefin; es liegt eben auch an der Welt.

Tatsächlich – und damit sind wir wieder bei den Ohrenschützern – täuscht das Donnergrollen, mit dem sich Unionspolitiker wie Blüm oder auch Horst Seehofer bemerkbar machen, über die Kräfteverteilung und die Meinungslinien in der Union hinweg. Die Lautstärke steht in umgekehrtem Verhältnis zum Rückhalt, den die Position der Kritiker derzeit in den Parteiführungen findet. Auch in der CSU wird sich bald zeigen, dass das angekündigte „sozialere“ Gegenkonzept sich vom Herzog-Papier der großen Schwester CDU so ganz tief greifend gar nicht unterscheidet. Im prinzipiellen Kern – weniger Verteilung durch den Staat, mehr Eigenleistung der Bürger – ähneln sich alle Reformvorschläge.

Umgekehrt ist freilich der Rückhalt in der CDU-Spitze für die Vorschlagsliste der Herzog-Kommission auch nicht zum vollen Nennwert zu nehmen. Die CDU tut sich relativ leicht damit, radikalen Umbauplänen zuzustimmen, solange sie von deren Umsetzung mindestens eine Bundestagswahl entfernt ist. Um in unsrem Bild zu bleiben: Auch die Kanonen der Angela Merkel donnern im Moment ein bisschen überlaut.

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