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Politik: „Es schien mir deutlich, dass etwas nicht stimmte“

Kevin Sites filmte, wie ein US-Soldat in einer Moschee einen wehrlosen Iraker tötete – jetzt schrieb er der Truppe einen Brief

Die Bilder aus der Moschee in Falludscha, in der ein USSoldat einen wehrlosen Iraker tötete, gingen um die Welt. Nun hat sich Kevin Sites, der Kameramann, der sie drehte, in einem offenen Brief an die Soldaten der Einheit gewandt, die er in Falludscha begleitete. Wir dokumentieren Auszüge:

Seit den Schüssen in der Moschee verfolgt mich der Gedanke daran, dass es mir nicht möglich war, euch direkt zu sagen, was ich sah, und den Vorgang zu schildern, der dazu führte, dass auch die Welt davon erfuhr. (...) Es ist an der Zeit, dass ihr die Fakten von mir, in meinen eigenen Worten, bekommt: (…)

Es gibt Berichte, dass die Moschee, in der am Freitag zehn Aufständische getötet und fünf verwundet wurden, vielleicht während der Nacht wieder besetzt wurde. Ich beschließe, euch Jungs zu verlassen und mich einer Infanterieeinheit anzuschließen, die sich von Haus zu Haus wieder zur Moschee vorarbeitet. (…) Wir hören Gewehrfeuer, das aus dem Innern der Moschee zu kommen scheint. Als wir am Vordereingang ankommen, sehen wir, dass eine andere Einheit die Moschee schon vor uns betreten hat. Der Offizier fragt: „Sind da Leute drin?“ Ein Marine signalisiert: fünf. „Hast du auf sie geschossen?“, fragt der Offizier. „Ja“, antwortet derselbe Marine. „Waren sie bewaffnet?“ Der Marine zuckt nur mit den Schultern (...).

Als wir drinnen sind, sehe ich (...) dieselben fünf Männer, die am Freitag verwundet wurden. Es sieht so aus, als sei einer nun tot und drei bluten zu Tode wegen neuer Schusswunden. Der fünfte wird teilweise von einem Tuch überdeckt und befindet sich am selben Platz und in derselben Situation wie am Freitag, neben einer Säule. (...) Es scheint nirgendwo Waffen zu geben.

„Das sind die Verwundeten von gestern“, sage ich dem Offizier. (...) Ich sehe einen Mann mit einer roten Keffijah, der gegen die Rückwand gelehnt ist. Ein anderer liegt mit dem Gesicht zum Boden daneben (...). Ich knie neben ihnen nieder, Zentimeter entfernt, und beginne sie zu filmen. Dann sehe ich, dass das Blut, das aus der Nase des Alten kommt, noch Blasen wirft. Ein Zeichen dafür, dass er noch lebt. Genauso wie der Mann neben ihm.

Während ich weiter filme, geht ein Marine zu den anderen Körpern (...). Dann höre ich ihn über einen der Männer sagen: „Er tut, verdammt noch mal, nur so, als sei er tot – er tut nur so, als sei er verdammt tot.“

Durch meinen Sucher sehe ich, wie er sein Gewehr in Richtung des verwundeten Irakers hebt. Es gibt keine plötzlichen Bewegungen, keinen Versuch, etwas zu greifen oder sich auf ihn zu stürzen. Dennoch konnte der Marine Grund haben zu glauben, dass der Mann eine Gefahr für ihn darstellte. Vielleicht will er ihn nur bewachen, während der andere Marine ihn nach Waffen untersucht. Doch stattdessen zieht er den Abzug. Etwas spritzt gegen die rückwärtige Mauer und die Beine des Mannes zucken.

„Nun, jetzt ist er tot“, sagt ein anderer Marine im Hintergrund.

Ich filme noch immer. Ich fühle ein seltsames Gefühl im Magen. Der Marine dreht sich ruckartig um und geht weg, am fünften Verwundeten vorbei, der neben der Säule liegt. Er lebt und sieht unter seinem Tuch hervor. Er bewegt sich, versucht gar zu reden. (...) Nach einem Augenblick stehe ich auf und erzähle den Marines erneut, was ich dem Offizier gesagt hatte – dass dieser Mann, all diese Verwundeten, dieselben von gestern waren. Dass sie entwaffnet, behandelt und hier gelassen worden waren. In dem Moment wurde dem Marine, der geschossen hatte, bewusst, dass ich mich im Raum befand. Er kam zu mir und sagte: „Ich wusste es nicht, ich wusste es nicht.“ Die Wut, die noch kurz zuvor zu spüren war, schien nun Furcht und Grauen gewichen zu sein. (…)

Ich kann nicht wissen, was im Kopf dieses Marines vorging. Er ist der Einzige, der das weiß. Aber wenn ich all das aus der Perspektive eines erfahrenen Kriegsreporters betrachte, der immer die dunklen Gefahren dieses Konflikts im Kopf hatte und sogar die Möglichkeit mildernder Umstände in Betracht zieht – so schien es mir doch sehr deutlich, dass etwas nicht stimmte.

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