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Protest gegen eine "Harte Grenze durch den Brexit" in Belfast (Archivbild vom 2. März 2017)

© AFP/Paul Faith

EU-Austritt Großbritanniens: Der Brexit stört den Frieden in Nordirland

Vor 20 Jahren wurde das Karfreitagsabkommen unterzeichnet, das Nordirland Frieden gab. Der ist jetzt in Gefahr - weil der EU-Austritt Großbritanniens eine harte Grenze schaffen könnte. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Kevin P. Hoffmann

Bis heute geht so mancher Ire nur humpelnd durchs Leben: Der Pistolenschuss in die Kniekehle, das kneecapping, war über Jahrzehnte eine beliebte Strafe der Irisch Republikanischen Armee (IRA) – meist für Querulanten oder Straftäter in der eigenen, also katholischen, Bevölkerungsgruppe. Es war ein jämmerlicher Teil des Versuchs, eine autonome Untergrundjustiz zu etablieren, und so die Gesetze der britischen Krone in Ulster, der nördlichen Provinz der irischen Insel, nicht anzuerkennen.

Mutmaßliche Verräter, die man verdächtigt hatte, mit der Polizei oder den Unionisten, den Anhängern des „United Kingdom“, paktiert zu haben, erwarteten Folter – und der Tod. Katholische Frauen, die sich mit britischen Soldaten oder Polizisten eingelassen hatten, wurden von der IRA auch mal geteert und gefedert. Für politische Gegner kam der Tod hingegen oft kurz und schmerzlos: Kopfschuss oder Zerfetzen per Autobombe. Die Gegenseite war nicht minder zimperlich. Auch reguläre britische Einheiten verübten Kriegsverbrechen.

Archaische Riten, Zustände wie im Dreißigjährigen Krieg – mitten in der Europäischen Union! Geschätzt 3500 Menschen starben in den 1960er bis 90er Jahren, die Bevölkerung einer ganzen Provinz wurde traumatisiert. Erst vor genau 20 Jahren, mit der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens am 10. April 1998, kam es zu einem Waffenstillstand – und einem langen fragilen Frieden.

Dieser Friedensvertrag für Nordirland, unterzeichnet von den Regierungen von Großbritannien und der Republik Irland, entpuppt sich heute als Meisterleistung der Diplomatie, er ist die Ehrenrettung der demokratisch legitimierten Politik, der man so oft mangelnde Durchsetzungsfähigkeit vorwirft. Hier aber hat Politik terroristische Separatisten an einen Tisch gebracht, gezwungen, die Waffen zu strecken. Ein jahrhundertealter Konflikt wurde zwar nicht aufgelöst – aber doch beruhigt, befriedet. Heute fließt kein Blut mehr. Das ist kaum zu überschätzen.

Vor 20 Jahren: Zwei Männer lesen das Karfreitagsabkommen, im Hintergrund Graffities der IRA.
Vor 20 Jahren: Zwei Männer lesen das Karfreitagsabkommen, im Hintergrund Graffities der IRA.

© John_Giles/epa/dpa

Friedensstiftende Kraft des Binnenmarktes

Es ist auch ein Sieg der Europäischen Union, oder genauer: ein Beleg für die friedensstiftende Kraft ihres Binnenmarktes mit freiem Waren- und Personenverkehr. Wo Mauern fallen, werden aus Feinden zunächst oft Geschäftspartner, dann gute Nachbarn, vielleicht gar Freunde. Speziell Deutsche haben das vor bald 30 Jahren erleben dürfen. In Nordirland aber ist dieser ausgehandelte Frieden nun akut in Gefahr – wegen des Mehrheitsbeschlusses aller Wähler in Großbritannien und dem kleinen Nordirland, der gemeinsame Staat möge die EU verlassen. Die Geschichte wird also zurückgedreht, es wird eine neue Grenze geben.

Wenn Großbritannien die EU tatsächlich 2019 verlässt, geht nicht nur Freiheit verloren. Dabei wollten das nicht nur die republikanisch orientierten Katholiken verhindern, auch britisch-orientierte Protestanten lehnten den Brexit ab: Beim Referendum vor bald zwei Jahren stimmten 56 Prozent aller Nordiren pro EU, nur eine Minderheit für den Brexit.

Für Michel Barnier, den Brexit-Unterhändler der EU, ist die Nordirland-Frage eines der wenigen großen Probleme, für das nicht ansatzweise eine praktikable Lösung in Sicht ist. Der heutige Jahrestag sollte ihn und Theresa May, die politische Erbin der Nordirland-Kriegerin Margaret Thatcher, mahnen, im Sinne aller Nordiren einen Ausweg zu finden. Einer hieße, die Grenze muss offen bleiben – oder endlich ganz fallen.

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