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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hält den Beschluss des EU-Parlaments für wertlos.

© AFP

EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei: Eiszeit im Europaparlament

Die Resolution, in der das Einfrieren der Beitrittsgespräche gefordert wird, findet in Straßburg eine breite Mehrheit. Der türkische EU-Minister attestierte Europa „unkluge Debatten ohne Vision“.

Die konservative EU-Abgeordnete Viviane Reding sprach für viele Europaparlamentier, als sie am Donnerstagmittag ihre Haltung zur Unterdrückung der Opposition in der Türkei per Twitter kundtat. „Die Türkei hat sich für die EU-Mitgliedschaft disqualifiziert“, schrieb die ehemalige EU-Justizkommissarin. Kurz zuvor hatte das Europaparlament in Straßburg mit großer Mehrheit gefordert, die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei vorübergehend einzufrieren. Für die Resolution stimmten nicht nur konservative Abgeordnete wie Viviane Reding, sondern auch Vertreter der Sozialdemokraten, der nationalkonservativen EKR-Fraktion, der Liberalen, der Linksfraktion und der Grünen.

Die Resolution „RC 8 1276/2016“ hat es in sich

Der Text der fraktionsübergreifenden Resolution „RC 8 1276/2016“, der 479 von 623 Abgeordneten zustimmten, hat es durchaus in sich. Angeprangert werden darin die „unverhältnismäßigen Repressionen“, mit denen der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan auf den gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli reagiert hat. Gemeint ist damit unter anderem die Verhaftung von zehntausenden Regierungsgegnern. Die Brüsseler Kommission und die EU-Mitgliedstaaten müssten daher die seit 2005 laufenden Beitrittsgespräche mit Ankara vorübergehend auf Eis legen, forderten die Abgeordneten. Ein endgültiges Aus für die Verhandlungen soll dies nach dem Wunsch der Parlamentarier aber nicht bedeuten. Denn die Abgeordneten verpflichteten sich am Donnerstag auch, ihre Haltung noch einmal zu überdenken, falls Erdogan die Unterdrückung von Regierungsgegnern beendet.

Für Kommission und Mitgliedstaaten ist die Resolution nicht bindend

Ob die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten der Forderung des Parlaments folgen, steht aber auf einem anderen Blatt. Die Resolution der Europaparlamentarier hat nämlich keine bindende Wirkung. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini hatte schon am Dienstag im EU-Parlament davor gewarnt, den Gesprächsfaden zwischen Ankara und der EU abreißen zu lassen. Wenn die Verhandlungen eingefroren würden, stünden beide Seiten als Verlierer da, hatte sie argumentiert. Als rote Linie gilt für die EU-Mitgliedstaaten allerdings die von Erdogan angekündigte Wiedereinführung der Todesstrafe – dies würde das Ende der Gespräche bedeuten.

Im Juni wurde ein weiteres Verhandlungskapitel eröffnet

Als die EU im vergangenen März, also noch vor dem Putschversuch, mit der Türkei ein Flüchtlingsabkommen schloss, war Ankara auch eine Intensivierung der Beitrittsgespräche in Aussicht gestellt worden. Im vergangenen Juni öffnete die EU dann ein weiteres Verhandlungskapitel. Dabei handelte es sich um Haushaltsfragen – im Gegensatz etwa zur Rechtsstaatlichkeit in der Türkei kein heikles Verhandlungsthema.

Türkischer EU-Minister Çelik reagiert verärgert

Erdogan hatte bereits vor der Abstimmung des Europaparlaments die Resolution aus Straßburg für wertlos erklärt. Sein EU-Minister Ömer Çelik wiederholte nun am Donnerstag unmittelbar nach dem Votum sichtlich verärgert diese Einschätzung. Statt Solidarität mit der Türkei gebe es in Europa „unkluge Debatten ohne Vision“, beklagte sich Çelik.

Kritik an den Verhaftungen und der Einschränkung der Meinungsfreiheit nach dem vereitelten Putsch vom Juli lässt die politische Führung in Ankara nicht gelten. Die Regierung in Ankara stellt die Position der EU gegenüber der türkischen Öffentlichkeit als Unterstützung der kurdischen Untergrundarmee PKK und der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen dar. Erdogan beschuldigt die Gülen-Bewegung, für den Putschversuch verantwortlich zu sein. „Das Europaparlament stimmt für den Terror“, kommentierte entsprechend ein türkischer Nachrichtensender am Donnerstag das Votum in Straßburg.

Politikexperte: Einfrieren der Gespräche hätte negative Folgen

Ein tatsächliches Einfrieren der Verhandlungen würde zahlreiche negative Folgen haben, sagte der türkische Politikexperte Ayhan Kaya dem Tagesspiegel. Die Auswirkungen würden nach seiner Einschätzung die türkische Zivilgesellschaft und die akademischen Kreise im Land zu spüren bekommen. Darüber hinaus wäre auch der Flüchtlingspakt zwischen der EU und der Türkei von einem Einfrieren der Gespräche betroffen, so Kaya. „Die EU sollte besser weiter Einfluss auf die Türkei haben, indem sie die Verhandlungen laufen lässt, den Visumszwang aufhebt und sogar ein konkretes Jahr für den Beitritt benennt – 2023 oder 2025, vorausgesetzt, alle Kapitel sind erfolgreich geschlossen – um die türkische Regierung in Schach zu halten“, sagte Kaya, der den Jean-Monnet-Lehrstuhl für europäische Politik an der Istanbuler Bilgi-Universität innehat.

Die Spannungen zwischen der EU und Ankara tragen derweil zum Verfall der türkischen Lira bei. Die Zentralbank in Ankara setzte sich am Donnerstag über den Wunsch Erdogans hinweg und hob einen der Leitzinssätze erstmals seit fast drei Jahren um 0,5 Punkte an. Dies änderte aber nichts am Verfall der Währung – für einen US-Dollar müssen inzwischen 3,42 Lira hingeblättert werden.

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