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EU-Fortschrittsbericht: Schwieriges Kapitel Türkei

Die EU-Kommission legt am Dienstag ihren jährlichen Fortschrittsbericht über den Beitrittskandidaten Türkei vor. Wo steht das Land auf seinem Weg in die Europäische Union?

Es gibt Tage, da könnte die türkische Zeitung „Taraf“ ihre Redaktionssitzung glatt auf den Fluren eines Istanbuler Gerichts veranstalten. Kürzlich erschienen an einem einzigen Tag nicht weniger als 18 „Taraf“-Mitarbeiter wegen insgesamt 44 Verfahren vor Gericht. Die Prozessflut gegen das militärkritische Blatt ist einer der Gründe, warum die Europäische Union in ihrem neuen Fortschrittsbericht, der an diesem Dienstag vorgelegt wird, die Mängel bei der Pressefreiheit anprangert. Auch bei anderen Grundrechten sowie beim Zypernkonflikt gibt es Probleme. Allerdings wächst auch in Ankara die Unzufriedenheit mit der EU.

Türkische Medien werden gleich von mehreren Seiten in die Zange genommen. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan verklagte in den vergangenen Jahren diverse Karikaturisten, weil ihm nicht gefiel, wie er von ihnen dargestellt wurde. Das von der Erdogan-Regierung geschriebene Internetgesetz gibt der Justiz weitgehend freie Hand bei der Sperrung von Websites wie Youtube. Regierungskritiker vermuten zudem, dass Erdogan die Medienlandschaft nach seinen Vorstellungen umformen will. Ein Schwiegersohn des Regierungschefs ist Manager bei einem regierungsnahen Medienkonzern.

Wesentlich bedenklicher als die Haltung der Regierung ist allerdings das Vorgehen der Justiz. Nationalistische Staatsanwälte und Richter legen Gesetze nicht im Sinne der Meinungs- und Pressefreiheit aus, sondern im Sinne eines engstirnigen Staatsschutzgedankens, besonders wenn es um Skandale bei Institutionen wie der Armee geht.

„Taraf“ zum Beispiel hat mehrere Putschpläne von Offizieren gegen die Erdogan-Regierung aufgedeckt. Redakteure und Reporter müssen sich nun wegen Geheimnisverrat verantworten. Und „Taraf“ ist nicht allein. Allein in den vergangenen zwei Jahren wurden laut Pressemeldungen rund 4000 staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren gegen türkische Zeitungen eingeleitet.

Für den Menschenrechtler und Anwalt Sezgin Tanrikulu sind solche Exzesse ein Beweis dafür, dass ein Wandel in den Köpfen der Bürokraten vordringlicher ist als neue Gesetze oder die ebenfalls geplante neue Verfassung. „Es muss einen Mentalitätswandel geben“, sagte Tanrikulu vorige Woche bei einer Konferenz der europäischen Grünen in Istanbul. „Sonst kann man die beste Verfassung schreiben, und es wird sich trotzdem nichts ändern.“

Aus der neuen Verfassung wird ohnehin erst einmal nichts, weil die Parteien keinen Konsens finden konnten. Derzeit ist das Ankaraner Parlament damit beschäftigt, rund 200 Begleitgesetze für die im September per Volksabstimmung beschlossenen 26 Verfassungsänderungen durchzuackern. Die EU sieht in der Verfassungsreform einen Schritt in die richtige Richtung und lobt die Einschränkung der politischen Macht der Militärs. Verbesserungen mahnt die Brüsseler EU-Kommission aber bei den Gewerkschafts- und Frauenrechten an. Die rechtlichen Probleme der Christen in der Türkei sind ebenfalls Anlass für Kritik aus Europa.

Solche Demokratiedefizite mögen den EU-Prozess in der Türkei stören – doch sie sind nichts im Vergleich zu der akuten Gefahr, die von einem außenpolitischen Konflikt ausgeht. Der Streit um Zypern könnte die türkischen EU-Gespräche bald vollständig zum Erliegen bringen. Acht von 35 Verhandlungskapiteln (Themenfeldern), die von der Türkei bewältigt werden müssen, wurden von der EU wegen des Zypernkonflikts gesperrt. Zusätzliche Kapitel werden von der Republik Zypern und Frankreich blockiert. 13 Kapitel hat die Türkei seit 2005 eröffnet, so dass nur noch drei Kapitel frei sind. Den Verhandlungen droht der Infarkt.

Deshalb bemühen sich Türken und EU-Vertreter hinter den Kulissen um eine Kompromissformel. Die Gespräche drehen sich um die Forderung der EU, die Türkei solle ihre Häfen für Schiffe aus der zur EU gehörenden griechischen Republik Zypern öffnen. Ankara verlangt, zuerst müsse die EU ihr Versprechen einlösen, direkte Handelsverbindungen mit dem türkischen Teil Zyperns einzurichten. Sobald dieser sogenannte Direkthandel zumindest in Ansätzen verwirklicht ist, will die Türkei ihre Häfen öffnen, was wiederum acht Verhandlungskapitel freimachen würde. Bisher wird der Direkthandel innerhalb der EU jedoch von den griechischen Zyprern blockiert.

In Ankara wächst zudem die Verärgerung über den offenen Widerstand einiger EU-Staaten wie Frankreich gegen die türkische Bewerbung. Die EU verhandelt mit der Türkei über einen Beitritt, ist aber in der Frage einer türkischen Mitgliedschaft tief gespalten.

Erdogan hat die Europäer mehrmals aufgefordert, geradeheraus zu sagen, ob Ankara nun als Mitglied erwünscht sei oder nicht. Ein europäischer Spitzenpolitiker gewann kürzlich bei Gesprächen mit der türkischen Führung den Eindruck, dass sich Ankara die Hinhaltetaktik der EU nicht mehr lange mitansehen will. Irgendwann nach den Wahlen im kommenden Jahr werde die Türkei möglicherweise entscheiden, ob die Fortsetzung der EU-Beitrittsverhandlungen überhaupt noch einen Sinn habe.

Manche Politiker in Europa befürchten, dass sich die Türkei, die ihre Beziehungen zu Ländern wie Syrien und dem Iran beträchtlich verbessert hat, vom Westen abwenden könnte. Außenminister Ahmet Davutoglu weist dies strikt zurück. „Unsere wichtigste Option ist die Europäische Union“, sagte er vorige Woche in Istanbul. „Alles andere sind Ergänzungen.“ Allerdings versah Davutoglu sein Bekenntnis zur EU-Perspektive mit einem Zusatz: Die Türkei könne nicht ewig auf Europa warten.

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