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EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger.

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EU-Kommissar Oettinger: "Solidarität ist keine Einbahnstraße"

EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger spricht im Interview über Europas Streit um Flüchtlinge, die umstrittene Justizreform in Polen - und den Wahlkampf in Bayern.

Herr Oettinger, die polnische Regierung verfolgt eine Justizreform mit dem Ziel, Richter dem Willen der Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) zu unterwerfen. Ist das für die EU-Kommission hinnehmbar?

Wichtige Teile der polnischen Justizreform entsprechen nicht den rechtsstaatlichen Prinzipien der EU. Die EU-Kommission hat der polnischen Regierung mehrfach ihre Bedenken mitgeteilt. Es ist zwar etwas Bewegung in die Sache gekommen. Der neue Premierminister Mateusz Morawiecki und seine Regierung sehen zumindest, dass es hier ein Problem gibt, und gehen mit kleinen Schritten auf die Kommission zu. Allerdings muss man auch feststellen: Die Regierung in Warschau hat bisher nicht in genügendem Maß Entgegenkommen gezeigt. Wir erwarten weiter gehende materielle Änderungen bei der geplanten polnischen Rechtsstaatsreform. Wir setzen deshalb den Rechtsstaats-Dialog mit der Regierung in Warschau fort und bauen dabei auf eine breite Unterstützung der EU-Mitgliedstaaten.

Sie teilen also nicht die Einschätzung des PiS-Vorsitzenden Jaroslaw Kaczynski, der von einer 80-prozentigen Chance für eine bevorstehende Einigung mit Brüssel gesprochen hat?

Eine solche Einigung wäre dann denkbar, wenn sich die polnische Regierung in deutlich größerem Umfang zu Änderungen bei der Justizreform bereit erklären würde. Ich bin zwar grundsätzlich ein Optimist. Aber ich halte es derzeit noch nicht für wahrscheinlich, dass es tatsächlich auch so kommt.

Wenn die polnische Regierung nicht einlenkt, könnte dies auch Konsequenzen bei der Auszahlung der EU-Fördergelder haben. Wird es im künftigen EU-Haushalt für die Jahre 2021 bis 2027 zu einer Verknüpfung der Rechtsstaatlichkeit und der EU-Regionalförderung kommen, von der Länder wie Polen profitieren?

Es geht uns nicht um eine Lex Polen. Sondern es geht um Folgendes: Indem wir aus dem EU-Haushalt mit unseren Programmen wichtige Projekte finanzieren oder kofinanzieren, sind wir für die ordnungsgemäße Verwendung der Gelder im Interesse der europäischen Steuerzahler verantwortlich. Nun sind bei relevanten EU-Förderungen in Millionenhöhe auch Rechtsstreitigkeiten durchaus denkbar. In dieser Situation sind wir in den Empfängerländern auf eine Gerichtsbarkeit angewiesen, die als eigenständige Gewalt unabhängig von Regierung und Parlament ihre Objektivität nachweisen kann. Deshalb ist die Verpflichtung zur Rechtsstaatlichkeit nicht irgendein theoretisches Gebot, sondern untrennbar mit dem Vertrauen in Gerichte verbunden, die bei einem Rechtsstreit über finanzielle Fragen entscheiden können. Wir wollen vorschlagen, dass im künftigen Haushaltsrahmen die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien als Bedingung festgelegt wird.

Auch mit dem Verhältnis zwischen Brüssel und Ungarn, wo an diesem Sonntag ein neues Parlament gewählt wird, steht es nicht zum Besten. Sehen Sie einen Ausweg im Streit um die Aufnahme von Flüchtlingen, die Ungarns Regierungschef Viktor Orban ablehnt?

Wir haben es in den letzten Jahren erlebt, dass die ungarische Fidesz-Regierung bedenkliche Gesetzgebungsvorschläge zwar angekündigt, aber dann am Ende doch nicht in die Tat umgesetzt hat. Die Ermahnung durch die Kommission hat oftmals gewirkt. Jenseits der rhetorischen Ankündigungen entsprechen die letztendlich von der ungarischen Regierungspolitik initiierten Rechtsakte fast immer europäischen Rechtsgrundlagen. Beim Thema der Verteilung der Flüchtlinge haben wir in der Tat ein Problem in mehreren Mitgliedstaaten. Wir bauen darauf, dass bei den bevorstehenden Verhandlungen über die Harmonisierung des europäischen Asylrechts auch in diesem Punkt eine Lösung gefunden wird.

Was schwebt Ihnen vor?

Solidarität ist keine Einbahnstraße. Deswegen erwarten wir von allen Mitgliedstaaten, dass sie Aufgaben der Migrations- und Flüchtlingspolitik schultern. Die Verhandlungen werden zeigen: Geht es nur um die Quote zur Verteilung von Flüchtlingen in der EU? Oder können Mitgliedstaaten, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, möglicherweise statt dessen einen finanziellen Beitrag an die Gemeinschaft leisten?

Im künftigen EU-Haushalt soll der Schutz der EU-Außengrenzen ein wichtiger Posten werden. Warum wollen Sie mehr Geld für diesen Bereich?

Es gibt innerhalb der EU den wichtigen Grundsatz der Freizügigkeit, der Kontrollen im Inneren der Gemeinschaft eigentlich überflüssig macht. Allerdings haben wir seit der Flüchtlingskrise eine Reihe von nationalen Grenzkontrollen, die wir als Kommission regelmäßig genehmigen oder verlängern – beispielsweise an der Grenze zwischen Deutschland und Österreich. Alle Beteiligten sagen: Nur wenn der Schutz der EU-Außengrenzen in Staaten wie Griechenland, Italien, Spanien oder Malta funktioniert, kann man die Grenzkontrollen im Inneren im Interesse der Personenfreizügigkeit und der Wirtschaft wieder aufheben. Dies streben wir an, und deshalb wollen wir eine starke personelle und finanzielle Verstärkung unserer EU-Grenzschutzagentur vorschlagen.

Wie kann etwa Griechenland von den anderen Europäern effektiv beim Schutz seiner Grenze zur Türkei unterstützt werden?

Wegen der vielen hundert vorgelagerten griechischen Inseln stellen sich im Fall von Griechenland die größten Probleme beim Schutz der EU-Außengrenzen. Deshalb müssen wir erkennen: Die Griechen schaffen die Aufgabe alleine nicht. Wir schlagen deshalb erstens vor, dass mehr Beamte der EU-Grenzschutzagentur Frontex als bisher vor Ort die Arbeit der griechischen Behörden unterstützen. Zweitens überlegen wir, dass die EU teilweise einen Beitrag dazu leistet, wenn die Griechen selbst mehr Personal für den Grenzschutz einstellen. Und drittens geht es um Hilfe für Athen im Verwaltungsbereich: Nach der Erstregistrierung von Flüchtlingen muss die Prüfung möglicher Asylgründe schnell und objektiv geschehen.

Was Oettinger über Merkels Flüchtlingspolitik denkt

Gestrandet. Flüchtlinge demonstrieren im September 2015 vor dem Bahnhof in Budapest.
Gestrandet. Flüchtlinge demonstrieren im September 2015 vor dem Bahnhof in Budapest.

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Es gibt Streit zwischen Brüssel und den EU-Mitgliedstaaten über die Finanzierung einer weiteren Tranche in Höhe von drei Milliarden Euro für Ankara im Zuge der EU-Flüchtlingsvereinbarung. Kommen Sie dabei Mitgliedstaaten wie Deutschland entgegen?

Die Verhandlungen in dieser Frage werden in der kommenden Woche fortgesetzt. Wir bereiten gerade die Position der Kommission vor. Wichtig ist, dass sich jetzt die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass wir das Abkommen mit der Türkei fortführen und eine zweite Tranche für Ankara bereitstellen wollen. Bei der ersten Tranche, die ebenfalls drei Milliarden Euro betrug, kamen zwei Milliarden auf freiwilliger Basis von den Mitgliedstaaten. Der Rest – eine Milliarde Euro – stammte aus dem EU-Haushalt. Wir werden in den nächsten Wochen sehen, ob wir als Kommission gegebenenfalls zu einem etwas höheren Finanzbeitrag bereit sind. Allerdings: Drei Milliarden aus dem EU-Haushalt können wir keinesfalls stemmen. Die Mitgliedstaaten müssen einen nennenswerten Beitrag leisten.

Bei ihrer ersten Regierungserklärung zum Start in ihre vierte Amtszeit hat sich Bundeskanzlerin Angela Merkel ausführlich mit der Flüchtlingspolitik beschäftigt. Wie bewerten Sie die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin im Rückblick?

Die Entscheidung der ersten Tage im September 2015 war völlig richtig. Seinerzeit entschloss sich die Bundeskanzlerin gemeinsam mit dem damaligen österreichischen Regierungschef Faymann, die in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge direkt und geordnet nach Österreich und Deutschland zu bringen. Man hätte dann aber früher, als es in der Realität geschah, eine europäische Linie finden müssen. Der deutsche Alleingang, der zunächst auch von Österreich mitgetragen wurde, hat auf europäischer Ebene schon mancherorts Verwunderung ausgelöst. Deshalb war es anschließend so schwer, auf europäischer Ebene eine Lösung zu finden.

Kommen wir noch einmal auf die Grenzen in Europa zurück. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder will eine eigene bayerische Grenzpolizei ins Leben rufen Was halten Sie von dem Vorhaben?

Der Grenzschutz ist nach dem Grundgesetz Sache des Bundes. Es sind die Bundesbehörden, die mit Innenminister Seehofer diese Verantwortung an allen deutschen Außengrenzen wahrnehmen. Eine geplante zusätzliche Polizeieinheit im Freistaat kann letztendlich nur als Verstärkung der bayerischen Landespolizei fungieren.

In der CSU gibt es immer wieder Kritik an Brüssel. So hat Seehofer der EU-Kommission einen belehrenden Ton gegenüber den Osteuropäern vorgeworfen. Wie groß ist Ihre Sorge, dass der bevorstehende Landtagswahlkampf in Bayern zum Anti-EU-Wahlkampf wird?

Ich möchte an die letzte Europawahl 2014 erinnern. Damals initiierte der damalige CSU-Vize Peter Gauweiler einen klar anti-europäischen Kurs. Das hat für die CSU nicht wirklich zum Erfolg geführt. Deswegen baue ich darauf, dass Ministerpräsident Söder sehr genau die Vorteile der EU insbesondere für die Industrie in Bayern sieht.

Wo wir schon bei Wahlkämpfen sind: Haben Sie eine Prognose für die Zusammensetzung des neuen Europaparlaments nach der Europawahl im kommenden Jahr? Drohen „italienische Verhältnisse“ – mit einem Erstarken extremer Parteien?

Das glaube ich nicht. Ich gehe davon aus, dass es eine stabile Mehrheit von Abgeordneten verschiedener demokratischer Fraktionen geben wird, die sich zum europäischen Projekt bekennen. Da kommt der CDU/CSU sowie der Fraktion der Europäischen Volkspartei und ihrem Vorsitzenden Manfred Weber eine entscheidende Rolle zu: Die EVP muss in der Lage sein, wieder deutlich die stärkste Kraft zu werden und gemeinsam mit anderen Fraktion einen klaren pro-europäischen Kurs im nächsten Parlament zu ermöglichen.

Der jetzige Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier gilt als Favorit unter den möglichen Kandidaten für die Nachfolge von Kommissionschef Jean-Claude Juncker. Soll Ihre europäische Parteienfamilie, die EVP, Barnier Ende des Jahres zum Spitzenkandidaten für die Europawahl machen?

Ich schätze Michel Barnier sehr. Wir arbeiten gegenwärtig bei der Bewältigung des Brexit eng zusammen, weil ich ihm in vielen Fragen des Haushaltsrechts zuarbeite und damit seine Arbeit als Chefverhandler unterfüttere. Er ist mit Sicherheit einer der sehr ernsthaften möglichen Bewerber für die Spitzenkandidatur der EVP.

Die Blitz-Beförderung des Juncker-Vertrauten Martin Selmayr zum Generalsekretär der EU-Kommission wird weiter in Brüssel diskutiert. Was ist bei der Berufung von Selmayr schief gelaufen?

Ich halte diese Berufung mit unseren beamtenrechtlichen Regeln voll vereinbar. Ich halte Martin Selmayr mit seinen fachlichen Fähigkeiten und seiner Erfahrung für den richtigen Generalsekretär. Aber vielleicht war der Überraschungseffekt für die Öffentlichkeit und auch für die Kollegen in der Kommission zu groß. Dieses Problem hätten wir eher erkennen und angehen müssen.

Sie sind inzwischen seit 2009 in der EU-Kommission aktiv. Ihre Brüsseler Amtszeit endet am Ende des kommenden Jahres. Können Sie jetzt schon einmal eine vorläufige Bilanz ziehen?

Wir waren anfangs ständig im Krisenmodus – angefangen mit der Staatsschulden-, dann mit der Flüchtlingskrise und schließlich mit dem Brexit. Inzwischen zieht die Wirtschaft in Europa wieder an, aber es gibt eine neue Herausforderung: Wir befinden uns mitten in einem Wettbewerb der Systeme. Unsere europäische Werteordnung ist nicht mehr unbestritten, sondern hat einflussreiche Autokraten als Gegner. Aktuell müssen wir Europäer aufpassen, nicht zerrieben zu werden zwischen den angedrohten Strafzöllen aus Washington und einer dominanten chinesischen Industriepolitik. Da müssen wir uns durch Zusammenhalt und eine gemeinsame Strategie behaupten.

Das Gespräch führte Albrecht Meier.

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