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EU-Gipfel

© ddp

EU-Krisengipfel: Merkel hofft auf Durchbruch in der Nacht

Beim Kampf um ein höheres Stimmengewicht in der EU hat Polen die Berücksichtigung der Opfer des Zweiten Weltkriegs gefordert. Großbritannien pocht daneben auf eine eigenständige Innen- und Außenpolitik.

Bundeskanzlerin Angela Merkel sieht trotz massiven Widerstands aus Polen und Großbritannien den Willen zur Einigung auf einen neuen Vertrag für die Europäische Union. Nach Abschluss der ersten Arbeitssitzung des EU-Krisengipfels am späten Abend sagte Merkel: "Wir müssen nun abwarten, ob sich das auch in Resultate überführt." Die Runde der 27 Staats- und Regierungschefs habe sie beauftragt, in der Nacht zum Freitag weiterzuverhandeln. Niemand wolle die Verhandlungen weiter in die Länge ziehen. Die polnische Außenministerin Anna Fotyga sagte, ihr Präsident Lech Kaczynski werde Merkel und auch Frankreichs Staatschef Nicolas Sarkozy noch in der Nacht zum Freitag treffen.

Zuvor hatte sie nach Angaben aus den Delegationen Erfolge auf dem Weg zu den längst überfälligen Reformen der EU erzielt. Nach Beginn der Beratungen verlautete aus den Delegationen, dass die Bedenken der lange widerstrebenden Niederlande gegen ein extrem reduziertes EU-Vertragswerk weitgehend ausgeräumt sind.

Widerstand von Polen und Großbritannien

Polens Präsident Lech Kaczynski und der britische Premier Tony Blair zementierten hingegen ihre Blockade-Positionen. Im erbitterten Streit um mehr Einfluss in der Europäischen Union machte Polen auch die Kriegsschuld Deutschlands geltend - ein in der EU-Geschichte beispielloser Vorgang.

Dennoch zeigte sich Merkel unbeirrt. "Es hat sich gezeigt, dass ein breiter politischer Wille vorhanden ist", sagte sie. "Viele Fragen sind technischer Natur und manche auch hochpolitisch." Alle Gipfelteilnehmer seien entschlossen, "alles zu unternehmen, um zu einer Übereinstimmung zu kommen." Es gehe darum, "dass man die Mehrheitsmeinung und die Wünsche einiger in eine vernünftige Balance bringt".

Vor den komplizierten Vertragsverhandlungen billigten die Staats- und Regierungschefs, das Euro-Gebiet zum 1. Januar 2008 um Malta und Zypern zu erweitern. Damit wird sich das gemeinsame Währungsgebiet auf 15 Länder mit rund 320 Millionen Menschen vergrößern. Merkel und EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso begrüßten die Entscheidung.

Ministerpräsident Jaroslaw Kaczynski, der Bruder des Präsidenten, behauptete, ohne den Zweiten Weltkrieg wäre die Bevölkerung Polens heute auf 66 statt 38 Millionen Einwohner angewachsen. "Wir verlangen nur das, was uns genommen wurde." Für Polen verhandelt auf dem Gipfel Präsident Lech Kaczynski, der als der vergleichsweise umgänglichere der Zwillinge gilt. Polen verlangt grundsätzlich, dass der Einfluss großer Mitgliedstaaten wie Deutschland im neuen Vertrag bei Abstimmungen in den EU-Ministerräten kleiner wird.

Bei den zweitägigen Beratungen wollten die Staats- und Regierungschefs die Krise nach dem Scheitern der Verfassung 2005 in Frankreich und den Niederlanden beenden.

Blair, der nicht einmal eine Woche nach dem Gipfel am 27. Juni sein Amt niederlegt, bekundete zwar Einigungswillen, blieb aber in der Sache unnachgiebig. "Natürlich wollen wir, dass Europa effizienter arbeiten kann. Aber unsere Forderungen müssen voll erfüllt werden." Er werde zudem nichts akzeptieren, was sein designierter Nachfolger Gordon Brown nicht mittragen könne.

Blair fordert Möglichkeiten zum Ausstieg

Großbritannien wehrt sich vor allem gegen die Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtecharta und gegen die eigene Rechtspersönlichkeit der EU, die dieser auch den Beitritt zu internationalen Organisationen erlauben würde. Blair forderte Möglichkeiten zum Ausstieg aus EU-Beschlüssen in den Bereichen Innen- und Justizpolitik sowie eine Beschränkung der Kompetenzen des künftigen "Außenministers" der EU.

Der Vorschlag der deutschen Ratspräsidentschaft für die Arbeit einer Regierungskonferenz bis Ende dieses Jahres sieht vor allem bei den Ausstiegsmöglichkeiten aus EU-Beschlüssen zu Sozial-, Innen und Justizpolitik sowie bei den Kompetenzen des "Außenministers", über dessen offiziellen Namen noch entschieden werden muss, eine Reihe von Formulierungen vor, die den britischen Wünschen entsprechen.

Auf massive Kritik stieß die britische Position vor allem bei Spanien. Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero sagte: "Unserer Ansicht nach ist die britische Haltung das Haupthindernis." Seine Landsleute hatten in einer Volksabstimmung die Verfassung gebilligt.

Österreichs sozialdemokratischer Bundeskanzler Alfred Gusenbauer warnte Polen und Großbritannien scharf vor überzogenen Forderungen. Für Österreich und die anderen 17 Staaten, die den gescheiterten Verfassungsentwurf bereits ratifiziert haben, gelte: "Jede Veränderung des Vertrages ist bereits ein Kompromiss, eine freundliche Geste gegenüber all jenen, die Probleme haben."

Martin Romanczyk[dpa]

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