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EU: Mahnende Worte aus Brüssel, Alltag in Ankara

Häufig hat Ankara in den vergangenen Jahren mit großer Spannung auf den neuen Fortschrittsbericht der EU über den Stand des türkischen Europastrebens gewartet. Heute ist der EU-Fortschrittsbericht in der Türkei kein Aufreger mehr.

Bei Vorlage des aktuellen Berichts am Mittwoch war von Aufregung jedoch nichts zu spüren. Natürlich laufe in der Türkei nicht alles hundertprozentig, sagte EU-Minister Egemen Bagis schon vor der offiziellen Präsentation des Dokuments, in dem erneut Defizite des Beitrittskandidaten in einigen wichtigen Bereichen aufgelistet wurden. „Wenn es so wäre, wären wir längst EU-Mitglied.“

Nur der nationalistische Rand in der Türkei regte sich über die EU auf. Dass die Brüsseler Experten als Beispiel für Einschränkungen der Meinungsfreiheit unter anderem auf gesetzliche Verbote der Kritik an Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk verwiesen, wurde als Angriff der EU auf die nationale Einheit gewertet. Es dürfe den Feinden der Republik nicht erlaubt werden, unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit „den höchsten Werten unserer Nation die Zunge heraus zu strecken“, erklärte der Verband für Atatürk’sches Gedankengut.

EU bescheinigt Fortschritte

In dem Bericht bescheinigte die EU dem Beitrittskandidaten Türkei einige Fortschritte. Gelobt wurden unter anderem die jüngste Initiative der Regierung zur friedlichen Beilegung des Kurdenkonflikts und die Annäherung an Armenien. Die EU-Kommission betonte aber auch, bei der Stärkung des Rechtsstaates, bei der Folterbekämpfung und bei der Verbesserung der zivilen Kontrolle über die Militärs habe die Türkei noch viel zu tun. Auch beim Zypern-Problem habe sich die Türkei bisher nicht bewegt. Ankara lehnt die Anerkennung der zur EU gehörenden griechischen Republik Zypern ab, so lange der türkische Nordsektor der geteilten Mittelmeerinsel von der EU mit einem Handelsembargo belegt wird.

Die in dem Bericht enthaltene umfangreiche Hausaufgabenliste der EU für die Türkei konnte den Alltag in Ankara nicht aus der Bahn werfen. Die Tagesprogramme wichtiger Politiker zeigten, dass die Türkei derzeit mit der eigenen Region beschäftigt ist, nicht mit Brüssel. Staatspräsident Abdullah Gül bereitete sich am Tag des EU-Berichts auf ein historisches Treffen mit seinem armenischen Kollegen Serge Sarkisian vor, der am Mittwochabend zu einem Fußballspiel in der Türkei erwartet wurde. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan feilte am Programm für eine Reise in den Irak an diesem Donnerstag. Außenminister Ahmet Davutoglu kehrte von einem Besuch in Syrien zurück.

Ankara setzt eigene Schwerpunkte

Wie die EU in ihrem Bericht feststellte, hat die Türkei ihren Reformprozess zwar nicht eingestellt; Entwicklungen wie die Versuche zur Aussöhnung mit Armenien wären vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen. Doch es ist unübersehbar, dass sich der Reformprozess in der Türkei und dessen Tempo von der EU abgekoppelt haben. Da eine baldige EU-Aufnahme unmöglich erscheint und das Lager der Türkei-Gegner in Europa möglicherweise schon bald durch die schwarz-gelbe Bundesregierung in Deutschland gestärkt werden wird, setzt die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan eigene Schwerpunkte. Diese können sich mit Forderungen der EU decken - müssen es aber nicht. Wenn die Türkei wegen der ablehnenden Haltung der EU auf die Kopenhagener Demokratie-Kriterien der Europäer verzichten müsse, dann werde das Land seinen Weg eben mit „Ankaraner Kriterien“ weiter gehen, lautet ein Lieblingssatz von Erdogan.

So leitete Ankara die Annäherung an Armenien nicht mit Rücksicht auf die EU ein, sondern aus der Erkenntnis heraus, dass die Türkei gute Beziehungen zu allen Nachbarn haben muss, wenn sie ihr Ziel verwirklichen will, sich als regionale Ordnungsmacht zu etablieren.

Die jüngste Kurden-Initiative Erdogans ist ein anderes Beispiel für türkische Reformen ohne EU-Mitwirkung. Der Ministerpräsident und seine Berater sind zu dem Schluss gekommen, dass eine friedliche Beilegung des Kurdenkonflikts nicht nur überfällig und außenpolitisch nützlich, sondern auch innenpolitisch gewinnträchtig ist; Umfragen belegen, dass viele türkische Wähler den seit 25 Jahren andauernden Krieg zwischen der türkischen Armee und den PKK-Kurdenrebellen satt haben und Erdogans „Kurden-Öffnung“ unterstützen, wie die Initiative des Premiers genannt wird.

Im Rahmen der „Kurden-Öffnung“ ist eine Stärkung der Sprachfreiheit für die Kurden vorgesehen, die nach Presseberichten bis hin zur Einführung eines Wahlfachs Kurdisch in staatlichen Schulen reichen könnte. Die EU war in den vergangenen Jahren mit wesentlich weniger weitgehenden Forderungen in Ankara abgeblitzt. Jetzt will Erdogan die Kurden-Reformen wagen, weil es seinen eigenen Prioritäten entspricht: In türkischen Zeitungen wird bereits über vorgezogene Neuwahlen im kommenden Jahr spekuliert.

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