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EU muss drei Tests bestehen: Die Krise kann Europa stärken – wenn Deutschland das Nötige tut

Wie reagiert die EU auf die Ungarn-Diktatur? Wie hilft sie Italien? Wie solidarisch ist Deutschland? Europa muss sich jetzt beweisen. Ein Gastbeitrag.

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„Europa wird aus Krisen geboren“, sagte Jean Monnet, einer der Hauptwegbereiter der europäischen Einheitsbestrebungen, „und es wird die Summe der Lösungen sein, die zur Bekämpfung der Krisen gewählt werden.“ Welches Europa aus der derzeitigen Krise hervorgehen wird, hängt von den Antworten ab, die Europa auf drei Tests geben wird.

Der Ungarn-Test

Kann eine Diktatur Mitglied der EU sein? Bereits vor dieser Krise haben Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei schon die Demokratie in Ungarn so weit ausgehöhlt, dass das Land nicht in die EU aufgenommen würde, wäre es ein Mitgliedskandidat. Unter dem Vorwand, die Corona-Pandemie zu bekämpfen, hat Orban nun per Notstandsgesetz weitreichende Macht an sich gezogen und kann unbegrenzt per Dekret regieren. 

Ungarn ist – während dieser Zeit – eine Diktatur. Jean Monnet sagte damals, dass keine Diktatur Mitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (aus der die EU hervorging) sein könne. Heute ist dies der Fall.

Die Sanktionen, über welche die EU verfügt, sind langsam und komplex. Aber es gibt eine Organisation, die jetzt entscheidend handeln kann und muss: Die Europäische Volkspartei (EVP), die einflussreiche Mitte-Rechts-Parteiengruppierung im Europäischen Parlament, deren Mitglied die Fidesz-Partei noch immer ist. (Obwohl die Mitgliedschaft „ausgesetzt“ wurde, agieren die europäischen Abgeordneten der Fidesz-Partei immer noch als Mitglieder der EVP-Fraktion.) 

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Die EVP hätte die Fidesz längst ausschließen müssen. Stattdessen hat sie eine Appeasement-Politik betrieben. Wenn die EVP die Partei des ungarischen Diktators jetzt nicht hinauswirft, verliert sie ihren letzten Funken Glaubwürdigkeit. Wenn Politiker der Europäischen Volkspartei schöne Reden über Demokratie halten, über Rechtstaatlichkeit und europäische Werte – dann haben junge Europäer das Recht, sie gnadenlos als Scheinheilige zu beschimpfen.

Der Italien-Test

Gibt es Solidarität im Herzen Europas? Wird die Eurozone es ermöglichen, dass die Mitglieder, die am stärksten von der Krise betroffen sind, sich erholen? Vor einem Monat haben wir mit Entsetzen zugesehen, wie  Regionen unseres Kontinents, die zu den am stärksten entwickelten gehören und mit die besten Gesundheitssysteme besitzen, von der Pandemie überwältigt wurden. 

Wenn Italien dieser Hölle entkommen ist, wird es konfrontiert sein mit der Herausforderung der wirtschaftlichen Erholung – vorbelastet bereits mit einer der höchsten Staatsverschuldungen in Europa. Seine Fähigkeit, Kredite aufzunehmen, wird von der gegenseitigen Unterstützung in der Eurozone abhängen.

Schon vor der Krise hatte sich Italien von einem der pro-europäischsten EU-Länder zu einem der euro-skeptischsten entwickelt. Die Krise hat bis jetzt diese Gefühle verstärkt. In einer Umfrage im März, gaben 88 Prozent der befragten Italiener an, dass sie sich nicht von Europa unterstützt fühlen. Und erschreckende 67 Prozent sahen keinen Vorteil in einer EU-Mitgliedschaft. Eine EU ohne Großbritannien ist denkbar, eine EU ohne Italien nicht.

Der Deutschland-Test

Kann Deutschland die Lage retten? Wird sich Europas zentrale Macht endlich die Logik einer Währungsunion zu eigen machen, von der sie so sehr profitiert hat? Deutschlands nationaler Umgang mit der Pandemie ist die beeindruckendste Reaktion einer Demokratie außerhalb von Asien. 

Die Vorteile eines guten öffentlichen Gesundheitssystems kombiniert mit starker medizinischer Industrie haben dazu geführt, dass Corona-Tests großflächig durchgeführt werden, Beatmungsgeräte und Intensivbetten in großer Zahl zur Verfügung stehen. Angela Merkel hat eine herausragende Fernsehansprache an die Nation gehalten – eine Lehrstunde in Demokratie, Solidarität und individueller Verantwortung, vorgetragen mit dem Verstand einer Wissenschaftlerin und dem Herz einer Pastorentochter. Nur ein Wort fehlte: „Europa“ hat sie nicht erwähnt.

Auf Angela Merkel und ihren Finanzminister kommt es jetzt an.
Auf Angela Merkel und ihren Finanzminister kommt es jetzt an.

© Kay Nietfeld/ dpa

Mittlerweile zeigt Deutschland Solidarität mit seinen bedrängten Nachbarn, sendet Schutzmasken in die Lombardei und behandelt schwerkranke Patienten aus Frankreich und Italien in deutschen Krankenhäusern. Aber die deutsche Führungskraft wird vor allem für die Bewältigung der politischen und wirtschaftlichen Krise gebraucht.

Deutschland kann Europa helfen, den Ungarn-Test zu bestehen; nicht zuletzt, weil Merkels Christ-Demokraten die stärkste Partei in der Gruppierung EVP sind. Sie müssen nun den Ausschluss der Fidesz-Partei vorantreiben. Und alle Anwärter auf die Merkel-Nachfolge sollten gefragt werden, welche Position sie in dieser Frage einnehmen.

Am entscheidendsten aber wird Deutschlands Antwort für den Italien-Test sein. Die Schlagzeile einer Zeitung lautete kürzlich: „Italiens Zukunft liegt in deutscher Hand.“ Wenn die Eurozone, und damit Europa, wirtschaftlich gesunden will, müssen die Regierungen Italiens und anderer südeuropäischer Staaten die Möglichkeit haben, Kredite unter Nutzung der wirtschaftlichen Glaubwürdigkeit Deutschlands und anderer nordeuropäischer Staaten aufzunehmen. Neben Italien ist Spanien am stärksten von der Krise betroffen. Ministerpräsident Pedro Sanchez sieht die Notwendigkeit einer „Kriegswirtschaft“ in Europa und fordert einen neuen innereuropäischen Marshall-Plan.

Das Paket der EU-Finanz- und Wirtschaftsminister muss groß sein

Sieben führende deutsche Wirtschaftsexperten haben stichhaltig argumentiert, dass dieser europäische Wiederaufbauplan die Ausgabe von einer Billion Gemeinschafts-Bonds beinhalten müsse – garantiert von allen Regierungen der Eurozone. Anders als die Euro-Bonds, die nach der Finanzkrise diskutiert wurden, wäre dies neues Geld, das für den Wiederaufbau nach einer Naturkatastrophe dient, für die wohl keine südeuropäische Regierung verantwortlich gemacht werden kann. 

Die Frage, wie diese Unterstützung im Detail funktionieren soll, würde uns tief in das Geflecht der Finanz-Mechanismen mit den Abkürzungen ECB, EIB, ESM oder EFSM führen (fragen Sie nicht!). Aber die grundlegende Frage ist einfach: Nachdem Deutschland Tabus wie die „Schwarze Null“ über Bord geworfen hat und voraussichtlich bis zu einer Billion Euro Hilfe für die deutsche Wirtschaft zur Verfügung stellt – wird dieses Deutschland einen Bruchteil dessen zur Unterstützung anderer Länder aufbringen, die im gleichen Boot sitzen? In einer Währungsunion ist „das gleiche Boot“ nicht nur eine Metapher. Welches Packet auch immer die europäischen Spitzenpolitiker diese Woche schnüren werden – es muss groß sein und als groß empfunden werden.

Italien braucht keine deutsche Gesellschaft beim Espresso-Trinken

Deutschlands größte Boulevard-Zeitung „Bild“ publizierte kürzlich einen offenen Brief an die Italiener mit dem Titel „Wir sind bei Euch“. Darin pries man Italien dafür, gutes Essen nach Deutschland gebracht zu haben und er endete mit „Ciao, Italia. Wir werden uns bald wiedersehen. Auf einen Espresso, einen Vino rosso. 

Ob im Urlaub - oder in der Pizzeria.“ Eine interessante Vorstellung der Solidarität. Wenige Tage zuvor hatte die gleiche Zeitung mit dem Titel aufgemacht „Was wird aus dem Euro? Vergemeinschaftung der Schulden droht“.  Lieber „Bild“-Leser, liebe „Bild“-Leserin, was Italien braucht ist nicht Ihre Gesellschaft beim Espresso-Trinken in der Toskana, so charmant das zweifellos ist, sondern die Vergemeinschaftung der Schulden, als logische Folge der Europäischen Währungsunion, von der Sie, liebe/r „Bild“-Leser/in, so sehr profitiert haben.

Es gibt eine Person in Europa, die diese Maßnahmen sowohl ergreifen als auch verteidigen kann: Bundeskanzlerin Angela Merkel. Letztes Jahr hatte ich argumentiert, Deutschland brauche einen Regierungswechsel, weil die Große Koalition erschöpft ist, was auch dazu führt, dass die extremen Ränder gestärkt werden. Das ist jetzt ausgeschlossen, mitten in einem Sturm der Stärke zehn. 

Stattdessen hat Merkel die völlig unerwartete letzte Chance, als maßgebliche Architektin einer stärkeren Europäischen Union in die Geschichte einzugehen. Von Bismarck stammt der Ausspruch, „Politik ist, dass man Gottes Schritt durch die Weltgeschichte hört, dann zuspringt und versucht, einen Zipfel seines Mantels zu fassen“. Dieser Mantel will jetzt ergriffen werden.

Timothy Garton Ash ist Professor für Europäische Geschichte an der Universität Oxford und Senior Fellow der Denkfabrik Hoover Institution an der US-Universität Standford. Übersetzung aus dem Englischen von Andrea Nüsse.

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