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Video-Routine. Bereit vier Mal tagten die Staats- und Regierungschefs der EU per Schalte.

© AFP

EU-Politik im Shutdown: Das Virus bremst die Brüsseler Gesetzesmaschine

Seit Wochen arbeitet die EU in Brüssel und Straßburg im Video-Modus. Die Folge: Wichtige Parlamentsvorhaben stocken - und Sicherheitslücken tun sich auf.

Die Küche im Straßburger Europaparlament steht im Dienst der guten Sache. Weil die Europaabgeordneten wegen der Corona-Pandemie wieder in ihre Heimatorte quer über den gesamten Kontinent zurückgekehrt sind, bekocht das Kantinenpersonal jetzt allein stehende Mütter und junge Menschen in der Elsass-Metropole. Die Verteilung der Essensrationen mithilfe des Roten Kreuzes soll Mitte der kommenden Woche beginnen.

Kein Ruhmesblatt stellt für das EU-Parlament hingegen die Art und Weise dar, wie der parlamentarische Betrieb anfangs auf die Corona-Krise reagierte. Zwar verabschiedeten die Abgeordneten wichtige Regelungen wie etwa die Aussetzung der so genannten Slot-Regelungen für Fluggesellschaften. Der Beschluss setzte unsinnigen Leerflügen ein Ende. Aber die Modalitäten für die dafür nötigen Abstimmungen unter den 705 Abgeordneten vermittelten den Eindruck, dass das Europaparlament noch nicht so ganz im digitalen Zeitalter angekommen ist.

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Denn als im März am zweiten Sitz des Parlaments in Brüssel erstmals trotz leerer Ränge ein Votum organisiert wurde, ließ Parlamentspräsident David Sassoli eine ziemlich komplizierte Abstimmungsmethode zu: Für die einzelnen Entscheidungen, an denen die Parlamentarier aus den 27 EU-Ländern aus der Ferne teilnahmen, wurden per Mail die Abstimmungsunterlagen verschickt. Die Wahlzettel mussten dann ausgedruckt, ausgefüllt, unterschrieben, eingescannt und wieder per Mail zurückgeschickt werden.

 Im EU-Parlament gilt bis auf Weiteres eine aufwändige Abstimmungsmethode

Die deutsche SPD-Abgeordnete Katarina Barley bezeichnete das Ausdrucken der Stimmzettel als „sehr, sehr Old School“.  Ob sich bis zur nächsten Sitzung im Mai eine geeignetere digitale Methode findet, ist allerdings ungewiss. Nach den Angaben einer Parlamentssprecherin arbeite die für technische Unterstützung zuständige Generaldirektion ITEC zwar an Alternativen. Bis auf Weiteres gelte aber das bisherige Verfahren.

Die Probleme des Europaparlaments verdeutlichen, mit welchen Herausforderungen der Brüsseler und Straßburger EU-Betrieb kämpft, seit Abgeordnete sich nicht mehr im Plenum treffen oder Minister in den Fachräten einander nicht mehr direkt begegnen können. Der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber berichtet von den Tücken des Arbeitens aus dem Homeoffice, die neben Millionen anderen Betroffenen auch die EU-Abgeordneten erleben. Bei einer Konferenz der konservativen EVP-Fraktion flogen  einige Abgeordnete jüngst aus der Leitung, erzählt Ferber. Und durch die Arbeit auf Distanz entfalle das Ausloten von politischen Kompromissen komplett, beklagt er. Dies sei erst im direkten Gespräch möglich, meint Ferber.

Europäische Verbandsklage liegt auf Eis

Betroffen vom Shutdown der Parlamentarier sind inzwischen mehrere Gesetzesvorhaben, die in diesen Wochen eigentlich zwischen EU-Parlament, der Kommission und den Mitgliedstaaten finalisiert werden müssten. Dazu zählt die Einführung einer europäischen Verbandsklage, die zur Stärkung von Verbraucherrechten beitragen soll. Das Vorhaben, das noch über die deutsche Musterfeststellungklage hinausgeht, könnte länderübergreifende Klagen in vielen Bereichen erleichtern – von der Telekommunikationsbranche bis zu Finanzdienstleistungen. Doch jetzt liegt das Projekt erst einmal auf Eis.

Aber nicht nur bei den EU-Parlamentariern stockt der Betrieb. In den Brüsseler Ratsgebäuden, wo innerhalb von sieben Tagen normalerweise 150 Sitzungen stattfinden, wurden in der zurückliegenden Woche neben der virtuellen Begegnung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit ihren Amtskollegen aus den übrigen 26 EU-Staaten gerade einmal zwei Dutzend Videokonferenzen mit Fachministern und -arbeitsgruppen abgehalten.

Die EU-Botschafter treffen sich weiterhin

Geleitet werden die Fachministerräte von der derzeitigen kroatischen EU-Präsidentschaft, die von der Pandemie kalt erwischt wurde. „Entscheidend war, dass die physischen Treffen der 27 EU-Botschafter beibehalten wurden, weil sie das Rückgrat des Entscheidungsprozesses in Brüssel bilden“, sagt Bruno Lopandic, Sprecher der kroatischen Präsidentschaft. In der Regel befinden sich bei diesen Treffen 54 Personen mit Zwei-Meter-Abstand im Raum: die Botschafter und die jeweiligen Spezialisten für einzelne Fachgebiete. Neben der Vorbereitung von Gipfeltreffen und Fachräten halten die Botschafter neuerdings eine wöchentliche Krisenrunde ab. Dort kommt es beispielsweise zur Sprache, wenn sich an den Grenzen der Frachtverkehr staut, obwohl die so genannten „Green Lane“-Übergangsstellen eigentlich eine zügige Abfertigung sicherstellen sollen.

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Als in Brüssel noch mit den neuen Videoformaten experimentiert wurde, beklagte sich der deutsche Botschafter bei der EU, Michael Clauß, Anfang des Monats in einem Drahtbericht über die geringen technischen Kapazitäten im neuen Ratsgebäude im Europaviertel. In Sorge um die im Juli beginnende deutsche Ratspräsidentschaft schrieb Clauß  seinerzeit, dass das Ratssekretariat lediglich in der Lage sei, eine Videokonferenz zur gleichen Zeit auszurichten. Seither hat sich allerdings etwas getan: Nach den Angaben eines EU-Vertreters können sechs Videokonferenzen mit allen 27 Mitgliedstaaten parallel stattfinden.

Ein Bild aus der Vor-Corona-Zeit: Spitzentreffen im Brüsseler Ratsgebäude werden so schnell nicht wieder stattfinden.
Ein Bild aus der Vor-Corona-Zeit: Spitzentreffen im Brüsseler Ratsgebäude werden so schnell nicht wieder stattfinden.

© AFP

Clauß sprach zudem einen wunden Punkt an, der auch bis zum Beginn der deutschen EU-Präsidentschaft kaum aus der Welt zu schaffen ist: Video-Sitzungen finden über offene Leitungen statt, weil es keine geschlossene Plattform zwischen allen Mitgliedstaaten gibt. „Wir sind uns der Risiken bewusst, aber wir können nicht die gesamte technische Umgebung in den Mitgliedstaaten kontrollieren“, sagt dazu der EU-Vertreter mit Blick auf die unterschiedlichen Systeme, die bei den Videokonferenzen in den Hauptstädten zum Einsatz kommen. 

Ob der Brüsseler Shutdown zum Sommer endet, ist ungewiss

Ohnehin können die virtuellen Treffen keinen vollwertigen Ersatz bieten für die physischen Begegnungen von Ministern oder Staats- und Regierungschefs, bei denen die eigentliche Politik oft am Rande – bei den bilateralen Meetings – gemacht wird. Zwar klappt es mit den „bilaterals“ auch bei den Videokonferenzen ganz gut, wie Finanzminister Olaf Scholz (SPD) im Streit um Milliardenhilfen aus dem umstrittenen Rettungsschirm ESM bei der Vermittlung zwischen seinem italienischen und niederländischen Amtskollegen feststellte. In der nächsten Runde der Gespräche, bei denen es um einen Wiederaufbaufonds mit einem Volumen von rund einer Billion Euro geht,  dürfte aber ein Durchbruch ohne einen EU-Gipfel nach altem Muster kaum zu schaffen sein.

Ob ein solches „echtes“ Treffen mit Merkel, Italiens Regierungschef Giuseppe Conte und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron bereits im Juni in Brüssel stattfinden kann, wie einige hoffen, ist aber noch offen. Gerade Belgien ist nach derzeitigem Stand alles andere als ein geeigneter Veranstaltungsort. Das Königsreich hat in Europa bei der Pandemie pro Kopf eine der höchsten Infektions- und Todesraten. 

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