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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan.

© imago/Depo Photos

EU und Türkei: Eiszeit bei Beitrittsverhandlungen

In der Praxis bewegt sich bei den EU-Beitrittsgesprächen mit Ankara nichts mehr. Die Niederlande wollen eine Erklärung der EU-Außenminister erreichen, die dem Stillstand Rechnung trägt.

Es war kein Zufall, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel am vergangenen Donnerstag mit dem griechischen Regierungschef Alexis Tsipras über die Türkei telefonierte. Denn am Ende der kommenden Woche wird der Umgang der Türkei wieder auf der Tagesordnung von Europas Spitzenvertretern stehen: Beim nächsten EU-Gipfel in Brüssel ist eine Bestandsaufnahme bei der Umsetzung des EU-Türkei-Abkommens geplant. Merkel und Tsipras gelten in der Türkei-Frage als Verbündete: Die Kanzlerin gehört zu den Architekten des im vergangenen März geschlossenen Abkommens mit Ankara, der griechische Ministerpräsident profitiert von dem Pakt, weil seit Anfang des Jahres die Flüchtlingszahlen in Hellas stark zurückgegangen sind.

Laut der Tagesordnung des Gipfels geht es zunächst einmal darum, den letzten Stand beim EU-Türkei-Abkommen festzuhalten. So sind von den insgesamt versprochenen sechs Milliarden Euro, die Ankara zur Versorgung der Flüchtlinge in der Türkei von der EU erhalten soll, nach Angaben der EU-Kommission 2,2 Milliarden Euro ausgezahlt. Nach Angaben aus EU-Kreisen wird damit gerechnet, dass Merkel und Co. noch einmal grundsätzlich ihre Zustimmung zum Flüchtlingsdeal bekräftigen werden.

Beim EU-Gipfel wird eine Debatte über den Flüchtlingspakt erwartet

Andere Töne waren zuletzt aus Ankara zu hören. Dort drohte Präsident Recep Tayyip Erdogan im vergangenen Monat damit, die Flüchtlingsvereinbarung aufzukündigen, falls die EU tatsächlich die Beitrittsgespräche komplett einfrieren sollte, wie es das Europaparlament zuvor gefordert hatte. Angesichts des Gebarens des türkischen Staatschefs, der seit dem Putschversuch am 15. Juli mit voller Härte gegen vermeintliche Unterstützer des Coups vorgeht, wird beim Gipfel nun nicht nur mit einer bloßen Bestandsaufnahme zum Flüchtlingsabkommen gerechnet. „Es wird unvermeidlich eine politische Debatte geben“, verlautet aus EU-Kreisen.

Für Merkel und Tsipras heißt das, dass sie sich auf eine kritische Auseinandersetzung mit Erdogans Kurs im Kreis der Staats- und Regierungschefs einstellen können. Die Kanzlerin hatte sich nach Erdogans jüngster Drohung mit Kritik an dem türkischen Präsidenten zurückgehalten. Auch Griechenland verfolgt eine diplomatische Linie gegenüber der Türkei in der Flüchtlingsfrage.

Parlament in Den Haag pocht auf harte Linie

Anders die Niederlande: Nach Angaben von EU-Diplomaten haben die Verhaftungen von Regierungsgegnern im Land am Bosporus, die Entlassungen von Staatsdienern und Erdogans Pläne zur Einführung einer Präsidialverfassung „große Sorgen“ in den Niederlanden heraufbeschworen. Auf den Wunsch einer Mehrheit im Parlament in Den Haag soll der niederländische Chefdiplomat Bert Koenders beim nächsten Treffen mit seinen europäischen Amtskollegen Anfang der kommenden Woche sondieren, ob sich unter den EU-Staaten ein Konsens für eine harte Haltung gegenüber Ankara herstellen lässt.

Geht es nach den Vorstellungen der Niederlande, dann sollen die EU-Staaten zu der gemeinsamen Feststellung kommen, dass die Beitrittsgespräche mit Ankara faktisch schon zum Stillstand gekommen sind. Die Beitrittsgespräche, so sieht man es zumindest in Den Haag, sollen weiter ausgesetzt bleiben, falls die türkische Regierung ihren harten Kurs gegen Oppositionelle nicht ändert. Bei dem niederländischen Vorstoß gehe es nicht darum, die EU-Tür für die Türkei zuzuschlagen, heißt es laut EU-Diplomaten weiter. Schließlich habe auch die Opposition im türkischen Parlament gefordert, dass die EU am Dialog mit Ankara festhält. Die Niederlande, so heißt es weiter, sähen sehr wohl, dass der Dialog mit Ankara fortgesetzt werden müsse, um die türkische Regierung an die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit zu erinnern.

Falls die europäischen Amtskollegen der Einschätzung des niederländischen Außenministers Koenders folgen sollten, wäre dies ohnehin nur eine Bestätigung des Status quo: Bei den Beitrittsgesprächen bewegt sich tatsächlich seit dem Putschversuch vom 15. Juli nichts mehr. Umso gewagter erscheint die Beteuerung Erdogans, dass die Türkei bereit sei, „gleich morgen Vollmitglied in der Europäischen Union zu werden“. Anders wird das in Brüssel gesehen: „Die Beitrittsverhandlungen liegen bereits auf Eis, und unter den gegenwärtigen Umständen wird das auch so bleiben“, sagte ein EU-Diplomat.

Der Text erschien in der "Agenda" vom 6. Dezember 2016, einer Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie im E-Paper des Tagesspiegels lesen.

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