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Euro-Krise: Vom tristen Alltag in Madrid

Spaniens Regierung beantragt, dass Europa seinen Banken hilft. Zugleich fliegen Bürger, die ihre Hypotheken nicht bezahlen können, aus ihren Wohnungen und suchen Essen im Müll.

Es gibt das Wörtchen „real“ auch im Spanischen, dort bedeutet es „königlich“, also majestätisch, prunkvoll, verschwenderisch im märchenhaften Sinne, im Sinne auch der Devise des Staatswappens: Plus Ultra – immer mehr, darüber hinaus. Real im Spanischen ist etwas ziemlich anderes als das, was die deutsche Sprache damit meint.

Spanisch real ist das Opernhaus im Zentrum der Hauptstadt Madrid, das Teatro Real, ein sechseckiger klassizistischer Prunkbau, der vor rund zehn Jahren umfänglich renoviert wurde und nunmehr technisch auf höchstem Niveau ist. Real im deutschen Sinn dagegen ist die Geschichte, nach der sein Bau wegen Geldmangels mehrfach unterbrochen wurde und sich von 1831 bis 1850 hinzog. Real ist auch, dass die Zahl derjenigen zurückgeht, die ein Opernabonnement haben. Das mag an dem Programm liegen, das auf moderne Stücke setzt, die weniger Anklang finden in Zeiten, die real umstürzlerisch genug sind. Außerdem real ist, dass neuerdings, wenn die Küchenhelfer des großen Operncafés die Mülltonnen auf die Straßen gestellt haben, Menschen herbeischleichen, die hoffen, darin noch etwas Essbares zu finden. „Comida basura“, heißt das, „Essen aus der Mülltonne“, ein reales Elendsstück.

Es ist noch angenehm warm an diesem Abend, als die Vorstellung endet und die elegant gekleideten Opernbesucher sich aus dem Hauptportal auf die Straßen schieben, um in Taxen oder zu Fuß in der Nacht zu verschwinden. An einem Nebeneingang geht die Tür auf, ein Küchenhelfer schiebt den Abfall raus. Die Tür geht wieder zu. Da huscht ein Schatten aus einer Nische. Er gehört zu einem älteren Mann mit einer leicht gekrümmten Statur. Schnell ist der Mann bei dem Abfalleimer. Er klappt den Deckel hoch, schaut kurz hinein. Dann versenkt er seinen rechten Arm im Müll und holt etwas heraus. Prüfend betrachtet er den Fund. Sandwichreste. Offenbar in Ordnung. Er packt sie ein. In seine weiße Plastiktüte. Dann verschwindet er, wie er gekommen ist: schattenhaft, unwirklich.

Auch an anderen Mülltonnen der Stadt sieht man sie, die neuen Hungrigen. Für sie ist längst real, was die spanische Regierung bis zum Samstagabend nicht offiziell machen wollte: Die Notlage ist da. Für den Bürger heißt das, dass er sich kein Essen mehr kaufen kann. Für den Staat, dass er keine Kredite mehr bekommt.

In der Nähe des Opernhauses befindet sich nicht nur der Königliche Palast, der Palacio Real, es befindet sich dort auch ein großer Supermarkt. Wenn nach Ladenschluss die Regale ausgemistet werden, sammeln sich um den Hinterhof herum inzwischen gut ein Dutzend Menschen. Sie hoffen darauf, abgelaufene Waren mitnehmen zu können, die nicht mehr verkauft werden dürfen, oder Obst und Gemüse, das lediglich unansehnlich ist. Auch in der Not gibt es eine Hackordnung. Die Stimmung ist gereizt. „Das ist unser Platz“, ruft einer, als sich neue Bedürftige in den Kreis der Wartenden gesellen. Aber die bleiben.

Schlacht um die besten Reste an der Mülltonne

Kurz nach 22 Uhr dann der ersehnte Augenblick: Angestellte werfen Kisten mit altem Obst, Gemüse, Fleisch und Milchprodukten in die Container. In die Wartenden kommt Bewegung. Es gibt bedenkliches Gerangel, als gelte nun, da man sich ohnehin weit von dem entfernt hat, was man mal für akzeptabel hielt, gar nichts mehr. Motto: Wenn man schon im Müll nach Essen sucht, dann kann man auch gleich handgreiflich werden, um das beste abzukriegen.

Unter den „Basura“-Sammlern ist ein Paar, das für den Kampf ums Essen bereits eine effektive Strategie hat: Einer geht an die Abfallfront, der andere packt die Beute ein. Sie bekennen, dass sie aus der Mülltonne essen müssten, weil sie für Essen einfach kein Geld mehr hätten. Die beiden sind noch jung, sie gehören zu der Altersgruppe, über die es heißt, jeder Zweite sei arbeitslos. Doch sieht man den beiden ihre Misere nicht an. Den Nachbarn gegenüber halten sie den Anschein aufrecht, alles gehe schon irgendwie.

Das sagt auch Oscar, 38, der arbeitslos wurde, seine Wohnung verlor und jetzt wieder bei den Eltern lebt, die ihre Rente mit ihm teilen. „Ich bin arm“, sagt er, „aber wenn du mich auf der Straße triffst, kannst du dir nicht vorstellen, dass ich aus dem letzten Loch pfeife.“ Weil er das normale Leben weiterführt, so gut es geht. So wie viele Spanier. An diesem Wochenende, an dem in krisenhaften Telefonaten um Spaniens Zukunft debattiert wurde, sah man auf den Straßen Madrids eine Nudistendemonstration für bessere Radwege, vor der Las Ventas Arena, in der ein Stierkampf stattfand, protestierende Tierschützer, und dann spielte am Abend ja auch noch die Fußballnationalelf in Polen zur Europameisterschaft auf. Das ist ja auch alles wichtig.

Mülltonnen durchwühlen ist offiziell verboten

Und so verhalten sich das Müllsucher-Paar, Oscar und viele andere Spanier ein bisschen wie ihre Regierung. Auch die tat lange so, als sei noch alles einigermaßen in Ordnung, als sei die Situation der Banken allein in den Griff zu bekommen. Doch während das Zaudern der Regierung offenbar Zugeständnisse der anderen Euroländer einbrachte – Spanien soll anders als Griechenland oder Irland im Gegenzug für die Hilfen kein strenger Sparkurs abverlangt werden – hat im Privaten der verschleierte Niedergang nur dazu geführt, dass nicht genug Hilfsangebote vorhanden sind.

Die Suppenküchen der Kirchen und sozialen Bewegungen in Madrid, Barcelona und anderen Großstädten kommen nicht mehr mit der Armenspeisung nach. Überall gibt es vor den Speisesälen lange Schlangen. Mancherorts müssen Bedürftige wochenlang auf einen freien Platz warten, für den sie meist noch einen Berechtigungsschein des Sozialdienstes benötigen. „Bis ich zum Zuge komme, bin ich schon verhungert“, schrieb ein Essensuchender in einem Protestbrief.

Inzwischen formieren sich Bürgerinitiativen, die versuchen, Essbares zu organisieren. Sie bitten Großhändler und Gastwirte um Spenden oder durchforsten den Müll. In Madrid hat sich eine Initiative „Comida Basura“ genannt. Sie hat eine mobile Küche aufgetrieben, mit der sie durch die Straßen zieht. Die Helfer von „Comida Basura“ begehen damit eine Ordnungswidrigkeit. In Madrid ist es verboten, Mülltonnen zu durchwühlen. Doch ein Sprecher der Stadtverwaltung beruhigt, dass die Armen, die in der Stadt im Abfall nach Essbarem suchen, „auf keinen Fall bestraft werden“. Das Gegenteil wäre auch fahrlässig in Zeiten, in denen die Zahl der Obdachlosen in die Höhe schnellt. Überall in Madrid sieht man Menschen, die auf Bänken schlafen oder in Metroeingängen, die in Hauseingängen Matratzenlager bauen, die Koffer mit Hausrat hinter sich herziehen und plötzlich in Tränen ausbrechen. Allein 2011 wurden rund 60 000 Menschen in Spanien von ihrer Bank aus der Wohnung geklagt, weil sie ihre Hypothek nicht mehr bezahlen konnten. Und vom Staat – der den Banken nun helfen lässt – ist keine Hilfe zu erwarten. In Spanien ist die Familie das soziale Netz. Aber manchen geht allmählich die Luft aus. „Immer mehr Eltern müssen wählen, ob sie ihren Kindern etwas zu essen kaufen oder die Monatsrate für die Wohnungshypotheken bezahlen“, berichtet ein Sprecher des spanischen Roten Kreuzes. Ein Kollege von ihm sieht bereits Zustände wie in der Dritten Welt aufziehen. Das kann natürlich eine theatralische Übertreibung sein – oder das Ende einer Plus-Ultra-Inszenierung, die in die falsche Richtung ging.

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