zum Hauptinhalt
Vor Referendum über den EU-Reformvertrag in Irland

© dpa

Europa: EU-Vertrag droht an Iren zu scheitern

Die Gegner des Vertrages von Lissabon liegen in Irland laut einer Umfrage zum ersten Mal vorn. Die dortige Regierung hat noch eine Woche Zeit, um für die Zustimmung beim Referendum zu werben.

Im einzigen EU-Land, das den Vertrag von Lissabon mittels einer Volksabstimmung ratifizieren will, haben die Gegner erstmals die Mehrheit. Die „Irish Times“ veröffentlichte am Freitag eine Meinungsumfrage, die erstmals eine klare Mehrheit gegen eine europäische Vorlage ergab. 35 Prozent wollen demnach am kommenden Donnerstag gegen die Ratifikation des EU-Reformvertrags von Lissabon stimmen, nur 30 Prozent dafür, und mehr als ein Drittel ist noch unentschlossen.

Damit würde erneut der Versuch scheitern, die Europäische Union (EU) zu reformieren und ihr einen Grundlagenvertrag zu geben. Im ersten Anlauf vor drei Jahren stoppten Franzosen und Niederländer die Ratifizierung der EU-Verfassung und erzwangen damit die abgespeckte Version, über die diesmal nur in Irland in einem Referendum abgestimmt werden muss. In den anderen 26 Mitgliedstaaten entscheiden die Parlamente.

Die Zeitung steuerte die Information bei, es gebe kein Beispiel dafür, dass ein solcher Trend in der letzten Woche vor einer Abstimmung je erfolgreich umgekehrt worden wäre. Keine guten Vorzeichen für die Befürworter des Vertrags. Zumal die letzte Umfrage der „Irish Times“ vor der Ablehnung des Vertrags von Nizza 2001 sogar eine klare Zustimmung signalisierte.

Die Widerborstigkeit der irischen Wählerschaft ist erklärungsbedürftig. Schließlich hat das kleine Land in den vergangenen 35 Jahren rund 40 Milliarden Euro netto aus den Brüsseler Kassen erhalten und seit den neunziger Jahren einen beispiellosen Wirtschaftsaufschwung erlebt. Umfragen zeigen, dass die Iren zu den begeisterten Europäern gehören; es gibt letztlich keine Gruppierung, die den Austritt aus der EU auch nur erwägt. Die Zugehörigkeit zum europäischen Verbund erlaubte den Iren, aus dem britischen Windschatten herauszutreten, was einen entscheidenden Einfluss auf die friedliche Lösung des Nordirlandkonflikts hatte. Folgerichtig setzen sich auch sämtliche im irischen Parlament vertretenen Parteien für die Annahme des neuen EU-Vertrags ein, mit Ausnahme der kleinen Sinn-Fein-Partei.

Die neueste Umfrage fragt nach den Motiven der Gegner. 30 Prozent begründen ihre Ablehnung mit ihrer eigenen Ignoranz. Sie wüssten nicht, worum es gehe. Weitere 24 Prozent sorgen sich um Irlands Einfluss und Identität. Man darf unterstellen, dass sie beispielsweise gegen den zeitweiligen Verlust des eigenen EU-Kommissars sind und die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat ablehnen. 22 Prozent befürchten die Aushöhlung der irischen Neutralität, während 17 Prozent das unangenehme Gefühl haben, von den Befürwortern erpresst zu werden.

Der jüngste Schnappschuss der öffentlichen Meinung hat zwei offensichtliche Schwachstellen: zum einen ist die Zahl der Unentschiedenen noch immer ungewöhnlich hoch – Spielraum für die großen Parteien, zumal die Neinstimmen ja angeblich nicht als Nasenstüber für eine unpopuläre Regierung gedacht sind. Zum Zweiten behaupten 82 Prozent, sie wollten „ziemlich sicher“ an die Urne gehen. Das ist höchst unglaubwürdig. 2001 machten sich bloß 34 Prozent die Mühe. Ein Jahr später, als der Nizza-Vertrag doch noch akzeptiert wurde, kamen 49 Prozent.

Die Befürworter ließen sich lange Zeit, ernsthaft mit ihrer Kampagne zu beginnen. Der unfreiwillige Rücktritt von Premierminister Bertie Ahern wegen zwielichtiger Geldgeschäfte lenkte die Aufmerksamkeit seiner Fianna-Fail- Partei ab. Als der neue Regierungschef, Brian Cowen, endlich die Ärmel hochkrempelte, hatten sich die Argumente der Gegner schon festgesetzt. Die Gruppe der Gegner ist alles andere als homogen; sie umfasst stockkonservative Katholiken, die in jedem Referendum einen heimlichen Anschlag auf das irische Abtreibungsverbot wittern, wie auch linke Gewerkschafter, die sich vor der Wettbewerbspolitik der EU fürchten. Das bevorstehende Referendum ist das sechste Europaplebiszit in Irland seit 1987.

Martin Alioth[Dublin]

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false