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Wer beobachtet wen wobei? Das sind Grundrechtsfragen, die EU-weit geschützt werden müssen.

© dpa-tmn

Europa: Für einen EU-weiten Demokratieschutzmechanismus!

Die EU-Haushalte werden regelmäßig überprüft, die Einhaltung der Grund- und Bürgerrechte nicht. Warum sich das ändern muss. Ein Gastbeitrag.

Im vergangenen Jahr schrieb der britische Historiker und Intellektuelle Timothy Garton Ash in der New York Review of Books, hätte man ihn „im Januar 2005 einfrieren lassen“, er wäre „als glücklicher Europäer“ in sein provisorisches Grab gesunken. Angesichts der allgegenwärtigen Krisen und der Desintegration, die Europa seitdem erfasst haben, wäre er - wenn man ihn im Jahre 2017 wieder aufgetaut hätte - „sogleich an einem Schock gestorben“.

Über ein Jahr ist seitdem vergangen, die von Ash beschriebenen Zentrifugalkräfte hingegen sind noch stärker geworden. In den Schreibstuben und Salons ist das Urteil längst gefällt: Während Ivan Krastev in einem viel diskutierten Essay die „Europadämmerung“ ausrief, skizziert der amerikanische Historiker Timothy Snyder in seinem neuesten Werk bereits unseren „Weg in die Unfreiheit“. Der Oxford-Professor Jan Zielonka diagnostizierte jüngst in einem Brief an den verstorbenen Ralf Dahrendorf das Versagen der europäischen Eliten als Ursache für die laufende „Konterrevolution“ gegen die liberale Ordnung in Europa.

Eine Diagnose lautet, dass die multilaterale Weltordnung – nachdem Francis Fukuyama schon das „Ende der Geschichte“ und den Sieg der liberalen Demokratie über den Autoritarismus ausgerufen hatte und wir uns bis zur Jahrtausendwende in einer scheinbar unausweichlichen Entwicklung hin zu mehr Freiheit und Demokratie wähnten – auf dem Rückzug ist.  Und dass ihre Grundpfeiler, Rechtsstaatlichkeit und universelle Menschenrechte als Maxime jedes staatlichen Handelns, zu wanken beginnen.

Europas Strahlkraft nimmt ab

Während diese Entwicklung einem globalen Trend folgt, in den USA unter Trump ebenso zu beobachten ist wie in der Türkei, Venezuela oder eben Ungarn oder Polen, ist das europäische Integrationsprojekt in besonderem Maße betroffen. So ist es doch elementarer Teil des Gründungsmythos der Europäischen Union, nicht nur Nationalismus und Kleinstaaterei zu überwinden, sondern auch als Leuchtturm der Menschen- und Bürgerrechte zu fungieren. Doch spätestens seit die Regierungen Polens, Ungarns oder Rumäniens begannen, die Gewaltenteilung aufzuheben und die Grundrechte ihrer Bürger einzuschränken, wurde klar, dass Europa an Strahlkraft zu verlieren droht.

Brüssel ist für die Protagonisten dieser Politik zur doppelten Zielscheibe geworden: Einerseits als Gegenentwurf zur eigenen nationalistischen Ideologie, andererseits als unliebsamer Akteur, der sich mit mahnenden Worten und Maßnahmen wie dem Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 des EU–Vertrages gegen deren Abgleiten in den Autoritarismus stemmt.

Wenn wie jüngst in Polen unabhängige Richter abgesetzt werden oder wie zuletzt in Österreich Ministerien in ihrer Informationspolitik zwischen freundlichen und kritischen Medien unterscheiden, beunruhigt dies zutiefst. Aber mit dem fortschreitenden technologischen Wandel stehen wir erst am Anfang potentiell viel bedrohlicherer Entwicklungen. In Barcelona wird derzeit ein System getestet, welches mit Hilfe einer softwaregesteuerten Analyse von Kamerabildern imstande ist, selbständig Schwarzfahrer in der U-Bahn zu identifizieren. Nicht auszumalen, wie solche Technologien in Händen von autoritären Systemen genutzt werden könnten. In einer Welt, in der die Digitalisierung sämtliche Lebensbereiche erfasst und die Nutzbarkeit künstlicher Intelligenz erst am Anfang steht, wird die Notwendigkeit der Einhaltung rechtsstaatlicher Standards weiter steigen. Wenn die nationalstaatlichen Institutionen nicht bereit oder imstande sind, den Grundrechtschutz zu gewährleisten, ist die europäische Ebene gefragt.

Wir brauchen daher endlich eine Initiative zum Schutz der Grundwerte in der EU, einen Pakt für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte. Analog zum Europäischen Fiskalpakt sollte zukünftig die Lage von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechten in der EU regelmäßig länderspezifisch durch die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA), unter Zuhilfenahme der Berichte des Büros für Demokratische Institutionen und Menschenrecht der OSZE (ODIHR) und der Venedig-Kommission des Europarats, evaluiert werden.

Berlin bremst, aus Angst vor der AfD

Diese Evaluation könnte Grundlage für Maßnahmen unterhalb der Schwelle eines Artikel-7-Verfahrens sein, wie die Konditionalisierung europäischer Finanzmittel. Die EU-Kommission sollte darüber hinaus dazu befähigt werden, „systemische Vertragsverletzungsverfahren" einzuleiten, indem sie spezifische Vertragsverletzungsverfahren gegen einen Mitgliedstaat, die in der Summe einen Verstoß gegen das Rechtsstaatlichkeitsprinzip darstellen, bündeln kann. Schließlich sollte ein neuer Versuch unternommen werden, die EU der Europäischen Menschenrechtskonvention beitreten zu lassen und die EU-Grundrechtecharta von sämtlichen Mitgliedstaaten ratifiziert wird.

Eine Umsetzung dieser Forderungen benötigt einen entsprechenden politischen Willen: Es ist rund ein Jahr her, dass am 26. September 2017 der französische Präsident Emmanuel Macron in der Sorbonne seine vieldiskutierte Rede zur Zukunft Europas hielt. Er hatte zuvor die Präsidentschaftswahl mit einer dezidiert proeuropäischen Agenda gewonnen und sich gegen die populistische und nationalistische Marine Le Pen durchgesetzt. Dass seitdem wenig passiert ist, liegt vor allem an der Lethargie in Berlin. Die große Koalition ist handlungsunfähig und weite Teile des politischen Berlins aus Angst vor der AfD erstarrt. Dabei zeigt das Beispiel Macron, dass ein klares Bekenntnis zu Europa gerade in diesen Zeiten honoriert wird. Die Europawahl im kommenden Mai wird eine Richtungswahl werden, zwischen Populisten, Vertretern des Status Quo und progressiven Kräften, die Europa nach vorne bringen möchten. Es ist höchste Zeit, sich wieder mit Verve zu Europa zu bekennen und das Integrationsprojekt weiter voranzubringen.

- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist stellvertretende Vorsitzende des Vorstandes der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Rechtsanwältin und Bundesministerin a. D.. Julian Jakob ist Referent für Europapolitik Fraktion der Freien Demokraten im Deutschen Bundestag

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