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Politik: „Europa hat eine Chance verspielt“

Spitzendiplomat Chrobog über die Verantwortung der westlichen Staaten

Herr Chrobog, Sie kennen die deutsche und europäische Außenpolitik: Hat der Westen im Verhältnis zu Ägypten auf eine falsche Stabilität gesetzt?

Stabilität in unserer Nachbarregion war für uns zu Recht immer wichtig, vernachlässigte aber oft unsere eigenen moralischen und ethischen Grundsätze. Spätestens als sich abzeichnete, dass der 82-jährige Mubarak wieder antreten beziehungsweise seinen Sohn Gamal zu seinem Nachfolger machen wollte, um dadurch das erstarrte System zu perpetuieren, wurde klar, dass es Widerstand gerade in der jüngeren Bevölkerung geben würde. Dies war der letzte Zeitpunkt, eine deutlichere Sprache zu sprechen. Unserer Bemühen um Stabilität darf nicht auf Kosten der Freiheitsbestrebungen der Menschen gehen.

Viele wünschen sich nun harte, klare Rücktrittsforderungen aus Berlin oder Brüssel an Mubarak. Wäre das hilfreich?

Ich verstehe diese Forderungen. Plädoyers für einen friedlichen Übergang in Ägypten, Aufrufe zur Gewaltlosigkeit an beide Seiten und die banalen Aussagen von Lady Ashton im Namen der EU werden der Sache nicht gerecht. Europa hat hier eine große Chance verspielt, seinen Einfluss einzubringen. Wir können zwar keine Empfehlung abgeben, wer Staatschef werden soll, aber ein Forderung an Mubarak nach seinem sofortigem Rücktritt wäre, nachdem was in den vergangenen Tagen passiert ist, mehr als gerechtfertigt gewesen und wurde auch von den Protestierenden erwartet.

Manche meinen, es brauche nicht nur Bekenntnisse des Westens, sondern eine Art Marschallplan für die Region.

Die eigentlichen Probleme beginnen erst nach dem Amtsantritt einer neuen Regierung. Schon auf Grund der desolaten wirtschaftlichen Lage werden viele Erwartungen und Hoffnungen der Menschen auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen enttäuscht werden. Es ist jetzt an uns, weniger Rüstungszusammenarbeit und dafür mehr Unterstützung beim Aufbau der Wirtschaft, des Rechtssystems und der Zivilgesellschaft zu leisten. Gerade Deutschland hat seine Fähigkeiten beim Aufbau der mittel- und osteuropäischen Staaten in diesem Bereich unter Beweis gestellt. Das sollte unser Beitrag zur Stabilität sein.

Welche Führungsstruktur wäre als Alternative zu Mubarak denkbar?

Mubarak muss sofort abtreten. Je länger er zögert, umso instabiler wird die Lage. Das Militär und der jetzige Vizepräsident werden in der Übergangszeit eine wichtige Rolle spielen.

Welche Schlüsse ziehen Sie daraus, dass das Militär in Kairo Mubarak-Gegner vor Mubarak-Unterstützern geschützt hat?

Immer mehr schlägt sich das Militär auf die Seite der Stärkeren – der Reformkräfte. Das zeigt auch der Besuch des Verteidigungsministers auf dem Tahrir-Platz. Aber auch das Militär ist Teil des Systems, von dem es finanziell in ungeheurem Maße profitiert. Die Armeeführung war verunsichert und hat lange gezögert zu erkennen, wo ihre langfristigen Interessen liegen. Aber sie hat das Schlimmste verhindert.

Herr Chrobog, Sie kennen das Land, Ihre Frau ist Ägypterin. Gibt es eine Schicht in Ägypten, die zum Träger einer Politik werden kann, die auf Austausch mit dem Westen und Ausgleich mit Israel setzt?

Eine solche Schicht gibt es. Es gibt gerade in der jüngeren Generation viele sehr gebildete Menschen, die die Entwicklungen im Westen sehr genau verfolgen. Ihr Problem ist, dass sie trotz bester Ausbildung im Moment keine wirtschaftliche Perspektive sehen. Auffällig ist: Es sind im Moment keine israel-feindlichen Töne zu hören, es sind keine antiwestlichen Slogans zu vernehmen, wenigstens nicht von den Mubarak-Gegnern. Es geht hier rein um innenpolitische Fragen, um die Verbesserung der eigenen Lebensbedingungen in einer freiheitlichen Ordnung.

Rund 30 Prozent Analphabeten gibt es in Ägypten, 20 Prozent der Menschen leben unter der Armutsgrenze, eine Mehrzahl der Frauen ist genital verstümmelt. Wie kann ein so rückständiges Land zur Demokratie finden?

Hier liegt das eigentliche Problem, und hier beginnt die Verantwortung der westlichen Staatengemeinschaft. Je mehr es gelingt, gerade den jungen Menschen eine Perspektive zu verschaffen, je mehr nimmt die Bereitschaft zu, am Aufbau eines demokratischen Staates mitzuarbeiten. Dabei müssen wir helfen – nicht nur mit Geld, auch mit menschlichem Engagement. Öffnung der Märkte für Güter aus der Region, Ausbildung junger Ägypter auch bei uns in Deutschland und schließlich auch deutliche Worte an Israel, die Chancen auf einen Frieden nicht weiter zu verbauen, sondern zur Vertrauensbildung in der Region beizutragen.

Jürgen Chrobog, 70, war Diplomat und Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Der Nahost-Experte ist seit 2005 Vorstandschef der Herbert-Quandt-

Stiftung. Die Fragen stellte Hans Monath.

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