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Frankreichs Ex-Staatschef Valéry Giscard d'Estaing.

© Davids

Europa in der Krise: Frankreichs Ex-Staatschef Giscard für Schuldenunion

Im Interview mit dem Tagesspiegel schlägt Frankreichs Ex-Staatschef Valéry Giscard d'Estaing die weitere Integration Europas in mehreren Etappen vor - dazu gehört am Ende auch eine Vergemeinschaftung der Schulden.

Herr Giscard d’Estaing, Sie haben gerade ein Buch zum politischen Zustand unseres Kontinents veröffentlicht, das den Untertitel „Die letzte Chance Europas“ trägt. Ein etwas pessimistischer Untertitel.
Stimmt. Aber schauen Sie sich doch die aktuelle Lage an: Das europäische System ist auf dem Rückzug. Ich würde zwar nicht gerade von einer Rückkehr des Nationalismus sprechen. Aber andererseits hat die Vorstellung wieder Konjunktur, dass es die Nationalstaaten sind, welche die großen Probleme lösen können. Europa wird nicht mehr als Ensemble gesehen, das gemeinsam handelt. Dabei ist doch genau das die Vision, die man sich wünschen sollte.
Bei der Europawahl hat einer von fünf Wählern für Parteien gestimmt, welche die EU in irgendeiner Form ablehnen. Warum?
Wegen der Krise. Die Arbeitslosenquote in der EU liegt im Schnitt bei zwölf Prozent, das Wachstum ist schwach. Das europäische System hat dieser Krise bislang nichts entgegengesetzt. Daher kommt es in der Öffentlichkeit zu einer Abkehr von der Europa-Idee...
... und selbst in Deutschland, wo die Wirtschaft noch halbwegs rund läuft, ist mit der AfD eine Euro-kritische Partei entstanden.

Um ehrlich zu sein: Das beunruhigt mich nicht sehr. Es gehört zur Demokratie, dass Meinungen und Haltungen in der Öffentlichkeit ständig in Bewegung sind. Manchmal kommen dann eben extreme Tendenzen zum Vorschein. Aber es ist sehr selten, dass sich daraus tatsächlich Mehrheiten entwickeln. Das gegenwärtige Problem liegt woanders: Europa hat kein gemeinsames Ziel mehr. Nach dem Zweiten Weltkrieg war erst der Frieden das Ziel, dann die politische Organisation im Westen Europas. Seit 1990 hat Europa aber kein Ziel mehr vor Augen.

Was hat sich seit 1990 geändert?

In der Öffentlichkeit wird oft übersehen, welche Verschiebungen in den letzten Jahrzehnten in der Welt stattgefunden haben: Die Großmächte spielen eine immer wichtigere Rolle. Aus Ländern wie China und Indien, die in den Siebziger- und Achtzigerjahren eher ein Schattendasein führten, sind Weltmächte geworden. Europa ist hingegen weiter fragmentiert. Wenn das so bleibt, wird Europa keine Rolle mehr einnehmen – höchstens die Nebenrolle eines netten Mitspielers.

Sie schlagen in Ihrem Buch eine Art Kerneuropa aus zwölf EU-Staaten vor, die sich in der Wirtschaftspolitik enger zusammenschließen sollen. Wie soll das funktionieren?

Als wir die Währungsunion geschaffen haben, wusste jeder, dass dazu auch eine gemeinsame Wirtschaftspolitik gehört. Das haben wir aber nicht gemacht. Es geht darum, einen Schritt von den Nationalstaaten, die zum Teil aus dem 17. Jahrhundert stammen, zu einem Gebilde zu unternehmen, das in gewisser Weise eine Einheit darstellt. Und auf dem Weg zu diesem Gebilde schlage ich mehrere Etappen vor: Erst die gemeinsame Währung, dann eine Vergemeinschaftung der Finanzpolitik, dann eine gemeinsame Steuerpolitik, schließlich eine Vergemeinschaftung der Schulden und ganz am Schluss eine Art Finanzausgleich zwischen den reichen und den armen Euro-Staaten.

Die Realität im Jahr 2014 sieht aber anders aus. Es gibt einen Steuerwettbewerb zwischen den Staaten – die Sondervereinbarungen zwischen großen Konzernen und den Behörden in Luxemburg zeigen es.

Es ist offenkundig, dass es einen missbräuchlichen Umgang mit den Unterschieden bei den Steuersystemen in der EU gibt. Bis jetzt ist es nicht gelungen, derartigen Praktiken ein Ende zu setzen.

In der von Ihnen vorgeschlagenen Kerneuropa-Gruppe fehlt Griechenland, dafür sind Deutschland und Frankreich nach Ihrer Vorstellung von Anfang an dabei. Polen soll aber erst „zu gegebener Zeit“ hinzustoßen. Warum die Vorbehalte gegenüber Polen?

Polen hat seinen Beitritt zum Euro noch nicht abgeschlossen. Deshalb mache ich diese Einschränkung.

Glauben Sie denn, dass Ihre Idee einer Vergemeinschaftung der Schulden mit Deutschland verwirklicht werden kann?

Ich glaube schon, denn die Deutschen sind ein vernünftiges Volk. Nein, es ist etwas anderes, das nicht zuletzt in Deutschland Irritationen ausgelöst hat – nämlich die Tatsache, dass sich einige Staaten in der Euro-Zone im vergangenen Jahrzehnt mühelos über Gebühr verschulden konnten.

Zu diesen Staaten gehört auch Frankreich. Wie bewerten Sie die gegenwärtige Haushaltslage Ihres Landes?

Im laufenden und im kommenden Jahr wird Frankreich gegen die Regeln der Haushaltsdisziplin verstoßen. Das ist ein Fehler. Dieses Fehlverhalten führt erstens dazu, dass unsere Gesamtverschuldung, die ohnehin schon sehr hoch ist, noch weiter steigen wird. Zweitens werden die Zinslasten wahrscheinlich noch weiter zunehmen, weil sich Großbritannien und die USA offenbar darauf vorbereiten, ihre Zinsen anzuheben.

Droht die Gefahr, dass Frankreich eines Tages wie Griechenland auf die Hilfe internationaler Kreditgeber angewiesen ist?

Ich hoffe, dass das nicht der Fall sein wird. Frankreich hat immer seine Schulden bezahlt. Das gelang selbst in den tragischsten Momenten unserer Geschichte wie nach dem Krieg von 1870 bis 1871. Damals hatte Frankreich einen enormen Schuldenberg, also hat das ganze Land eine kollektive Anstrengung unternommen, um das Geld zurückzuzahlen. Wir genießen auf den Kreditmärkten ein gutes Ansehen, und ich hoffe, dass es so bleibt. Aber noch einmal: Die Haushaltslasten, die durch die Zinszahlungen entstehen, sind enorm. Wir müssen zu einer vernünftigen Haushaltsführung zurückkehren. 57 Prozent des Bruttoinlandsproduktes werden gegenwärtig vom Staat verschlungen. Mein Ziel lag seinerzeit bei 44 Prozent.

Finanzminister Wolfgang Schäuble hat vorgeschlagen, das Amt eines EU-Finanzministers einzurichten, der über die Haushaltsdisziplin in den Euro-Staaten wacht. Was halten Sie davon?

Der Euro ist die zweitwichtigste Währung der Welt. Es ist nicht nachvollziehbar, dass die Staaten, die in der Euro-Zone versammelt sind, noch nicht einmal einen Generalsekretär haben. Ich stelle mir daher vor, dass die Euro-Zone ein solches Amt einrichtet – was im Grunde auf dasselbe hinausläuft, wenn Schäuble von einem EU-Finanzminister spricht.

Giscard d'Estaing gibt Altkanzler Kohl im Streit um Stabilitätspakt Recht

Altkanzler Helmut Kohl zu Beginn des Monats bei der Vorstellung seines Buches in Frankfurt am Main.
Altkanzler Helmut Kohl zu Beginn des Monats bei der Vorstellung seines Buches in Frankfurt am Main.

© dpa

Altkanzler Helmut Kohl hat jüngst in einem Buch die Aufweichung des Euro-Stabilitätspaktes durch Deutschland und Frankreich zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts als gravierenden Fehler bezeichnet. Einverstanden?

Das entspricht ziemlich genau den Tatsachen. In den Jahren 1999 und 2000 ist man auf die schiefe Bahn geraten. Deutschland befand sich damals allerdings in einer Ausnahmesituation. Eigentlich wollte Deutschland den Stabilitätspakt einhalten. Aber weil Deutschland tief greifende Reformen umsetzte und immer noch das Gewicht der Wiedervereinigung schultern musste, war das Land in einer sehr schwierigen Haushaltslage. Anders in Frankreich: Hier haben wir es schon immer mit einer Zunahme der öffentlichen Ausgaben zu tun. Statt diese Fehlentwicklung zu korrigieren, sind die Ausgaben in Frankreich immer weiter gestiegen. Altkanzler Kohl hat Recht: Man hätte zwischen 2000 und 2004 den Stabilitätspakt anwenden müssen.

Neben der Senkung der horrenden öffentlichen Ausgaben gibt es noch andere Reform-Baustellen in Frankreich. Zum Beispiel scheint das System der Arbeitslosenversicherung überholungsbedürftig. Die Arbeitslosenhilfe in Frankreich beträgt gelegentlich ein Vielfaches dessen, was in Deutschland üblich ist.

Das heutige System der französischen Arbeitslosenversicherung geht auf die Mitte der Siebzigerjahre und damit auf meine Amtszeit als Präsident zurück. Ich selbst habe damals wie viele andere auch geglaubt, dass die Arbeitslosigkeit ein vorübergehendes Problem ist. Damals nahmen wir an, dass die Betroffenen höchstens ein Jahr oder eineinhalb Jahre arbeitslos bleiben und anschließend mit Sicherheit wieder eine Beschäftigung finden würden. Deshalb haben wir ein System geschaffen, das eigentlich auf eine Kurzzeit-Arbeitslosigkeit ausgerichtet ist. Als wir es mit einer zunehmenden Langzeit-Arbeitslosigkeit zu tun bekamen, wurden auch die Regelungen, die wir geschaffen hatten, immer kostspieliger. Deshalb muss man sich in der Tat ansehen, welche Reformen bei der Arbeitslosenversicherung in anderen Ländern umgesetzt wurden – insbesondere in Deutschland.

Wenn man nach Frankreich schaut, drängt sich der Eindruck des politischen Stillstandes auf. Eine Reformdebatte findet kaum statt. Dafür diskutiert „tout Paris“ darüber, ob Nicolas Sarkozy wieder als Präsidentschaftskandidat antritt oder wer sich bei der Wahl des Präsidenten im Jahr 2017 im Lager der Sozialisten aufstellen lassen wird.

Diese ganze Debatte um die Präsidentschaftswahl 2017, die wir derzeit erleben, kommt viel zu früh. Schauen Sie doch einmal in die USA: Dort wird schon früher als bei uns ein neuer Präsident gewählt, nämlich 2016. Aber in Washington wird viel weniger als in Paris über mögliche Kandidaten geredet. Die eigentlichen Entscheidungen über die Präsidentschaftskandidaturen in Frankreich fallen 2016, nicht vorher.

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